Nein, der Karpfen hat keinen Bart – das heißt, anatomisch schon, aber keinen metaphorischen: Süßwasserfisch, heimisch, kurze Transportwege, auch die Innereien verwertbar, zeitgeistiger geht es ja gar nicht mehr! Und lettelnde Exemplare, also solche, die nach Schlamm schmecken, sind mittlerweile selten wie Einhörner, sage ich einmal. Wenn Sie also ein Kindheitstrauma haben: Zeit, es zu überwinden. Geh bitte, die paar Gräten ...

Wirklich, die Karpfen, die heutzutage angeboten werden, sind lang genug auf Frischwasserkur, keiner kommt direkt vom Teichabfischen in die Pfanne. In Alexandre Dumas’ unverzichtbarem, von Veronica und Michael Baiculescu herausgegebenem Das große Wörterbuch der Kochkunst können Sie übrigens nachlesen, dass das Letteln auch weggeht, wenn man den frisch gefangenen Fisch ein Glas Essig schlucken lässt: "Sogleich wird eine Art Schweißfilm den Körper überziehen" (...), die man dann abwaschen kann.

Die Karpfen, die heutzutage angeboten werden, sind lang genug auf Frischwasserkur, keiner kommt direkt vom Teichabfischen in die Pfanne.
Foto: Florian Kainz

Ausprobieren werden wir es nicht. Aber über Karpfen zu schreiben und nicht die Alten zu konsultieren, das geht auch nicht. Man lernt mehr als nur übers Essen, wenn Grimod de la Reynière, der Ahnherr der Gastrokritik, in seinem Manuel des amphitryons (herausgegeben von Vincent Klink als Grundzüge des gastronomischen Anstands) um 1800 schreibt, dass ein "in kurzer Brühe" zubereiteter Karpfen "ein Essen für Könige oder doch wenigstens für Armeelieferanten" sei. Wobei sich genau genommen nichts geändert hat, die Waffenhändler gehören noch immer zu den Reichsten.

Viele Gewässer, viele Arten

Die Karpfen der Königsklasse sind natürlich jene aus dem natürlichen Fließwasser. Es gibt zahllose herrliche Karpfenarten in vielen Flüssen der Welt – ich sage nur: Tigris! Aber so weit muss man nicht fahren. Googeln Sie "Karpfen" und "Donau", und schon sind sie dabei. Realistischerweise wird unser Weihnachts- beziehungsweise Postweihnachtskarpfen aber aus dem Teich stammen und dann in Frischwasser gesetzt werden. Transportiert wurde er früher, indem man ihm ein in Wein getunktes Stück Brot ins Maul steckte. So beschreibt de la Reynière die Reise der Elsässer Karpfen nach Paris – und wieder zurück, wenn sie dort nicht verkauft wurden.

Zur Behauptung, dass der Karpfen zur "Nose to tail"-Zubereitung taugt – Kollegin Petra Stuiber hat vor drei Jahren, auch in der Weihnachtsausgabe, darüber geschrieben –, braucht der gelernte Österreicher ja eigentlich nichts weiter zu sagen als das Wort Fischbeuschelsuppe. Der hat sich vor nicht allzu langer Zeit Tobias Müller in seiner STANDARD-Kolumne "Gruß aus der Küche" gewidmet. Finden Sie alles online im Archiv.

In Österreich, wo nichts und niemand den Bröseln entkommt, wird die Karpfenmilch natürlich auch gerne extra paniert und gebacken. De la Reynière erwähnt noch extra die Versessenheit mancher Gourmets – Gourmands wird das eher nicht satt machen – auf Karpfenzungen. Allerdings habe man Karpfen gefunden, schreibt er, die "in der unverhohlenen Absicht, ihrer Lüsternheit (jener der Feinschmecker nach der Zunge, Anm.) einen Possen zu spielen, die Zunge unter dem Schwanz hatten". Wie bitte? Da hilft auch Dr. Google nicht weiter. Wenn sich jemand auskennt, bitte melden, danke!

Fundgrube Kochbücher

Neben F. G. Zenker (Kochbuch für die mittleren Stände von 1820, herausgegeben von Peter Kubelka als Nicht mehr als sechs Schüsseln!) erwähnt auch der alte Dumas die Bedeutung des Karpfenkaviars für Juden, denen ja der Störkaviar als nicht koscher verboten ist. Jüdische Kochbücher sind generell eine Fundgrube für Karpfenzubereitungen aller Art. In einem Anfall von jugendlichem Übermut haben meine spätere Koautorin Christa Fuchs und ich vor vielen Jahren einmal einen Gefilten Karpfen nach Originalrezept fabriziert: Karpfenhaut als Schlauch mit Kopf und von diesem weg Richtung Schwanz, der auch dran bleiben muss, gaaaanz vorsichtig abziehen und die leere Haut wieder mit der Karpfenfarce und harten Eiern füllen, dass er wie unversehrt daliegt. Ein Meisterwerk! Nie wieder!

Typisch sind auch süßsaure Rezepte, mit Lebkuchen und Rosinen – die heute wieder aufgegriffen werden. Vincent Klink etwa präsentiert in seinem nicht ganz jugendfreien Weihnachten (mit Wiglaf Droste und Nikolaus Heidelbach) eine solche Idee: Zu Karpfenfilets fabriziert er eine Sauce aus Weißbier, Schalotte, Knoblauch, Karotte, Zitronensaft, Nelke, Pimentpulver, Saucenlebkuchenbröseln (ist weniger süß). Einkochen und passieren und zu den Karpfenfilets servieren.

Trauet euch, ihr Christen alle!

Trauet euch, ihr Christen – und alle anderen! Es muss nicht immer der gebackene Karpfen der Kindheit sein, womöglich mit Mayonnaise-Erdäpfelsalat aus der Zeit, in der das Cholesterin noch nicht erfunden war. Der österreichischen Küche liegen kulinarisch östlich angesiedelte Karpfenrezepte nahe, seien sie mit Paprikasauce oder aber sogar mit Sauerkraut. So ein Karpfen hält das aus. Auch das Rezept, das ich Ihnen hier ans Herz lege und das Meister Christian Petz extra einmal für den STANDARD gekocht hat (siehe Rezept Mitte), ist ja nicht von schwachen Eltern mit Schwarzwurzeln, Kapern und Rosinen. In seiner Die neue Wiener Küche lässt Petz die Zubereitungsart einem Zander angedeihen.

Inspiration kann man sich auch in einem Kochbuch der Illustrierten Kronen-Zeitung holen, mit Rezepten von Leserinnen und Lesern (!), ab 1906 gesammelt, aber erst im Ersten Weltkrieg erschienen. Denn die Aufschlagseite ziert die Parole "Durchhalten! Sie sparen, ohne sich Abbruch zu tun, wenn Sie zum Kaffee Korona-Kaffee-Ersatz verwenden". Heimelig.

Die Karpfenspeisen gehen über etliche Seiten. Weitverbreitet – weil auch in anderen Kochbüchern zu finden – dürfte der mit Wurstbrät gefüllte Karpfen gewesen sein, dessen eine Seite auch noch gespickt wurde. Mehrere Rezepte beschäftigen sich mit Beizen, die den Fisch "schwarz" machen sollten – und schwarzen Saucen, in die Karpfenblut eingearbeitet wurde. Nun muss man nicht den Verlust einer jeden kulinarischen Tradition bedauern. Aber spannend war die Küche unserer Altvorderen allemal!

Karpfen nach Petz mit Schwarzwurzeln, Kapern und Rosinen

Schwarzwurzeln (40 Deka für vier Personen) schälen, der Hälfte nach halbieren, schräg in Stücke schneiden, in Zitronenwasser legen. Zwei Schalotten in Streifen schneiden, in Butter anlassen, mit Noilly Prat ablöschen, ein Viertelliter Geflügelfonds dazu. Schwarzwurzeln darin weich dünsten, je einen Esslöffel Rosinen und kleine Kapern dazu, fünf Minuten ziehen.

Karpfenfilets sorgfältig schröpfen (auf der Hautseite im Halbzentimeterabstand bis fast zum Boden des Filets durchschneiden – macht die Gräten weniger bösartig), Kümmel, Koriander, Wacholder, Fenchel mörsern. Karpfen mit Salz, Pfeffer und Zitrone würzen, auf der Hautseite mit der Gewürzmischung einreiben und leicht mehlen, mit der Hautseite zu Butter und angedrücktem Knoblauch und Thymian in die Pfanne. (Gudrun Harrer, 24.12.2020)