Ist das der Himmel? Eher eine Art Kinderstube davon. In "Soul" stirbt ein Jazzpianist zu früh und wandert dann (mit Hut) durch das "Große Davor", in dem es von seltsamen Gestalten nur so wimmelt.

Foto: Pixar/Disney

Nicht einmal zu Weihnachten kriegen bekanntlich alle das, was sie sich am sehnlichsten wünschen. Bei Joe, einem passionierten Jazzmusiker, der sich als Musiklehrer in einer Schule abstrampelt, sieht es fast so aus. Aber nur fast. Endlich soll er mit der Star-Saxofonistin Dorothea Williams (im Original Angela Bassett) einen Gig bekommen und sie als Pianist begleiten, sein Solo bei der Probe machte richtig Eindruck. Doch dann stürzt er in einen offenen Straßenschacht, einfach so. Mausetot.

Pixar

Bis zu diesem schnellen Abgang sind in Soul, dem jüngsten Animationsfilm aus der Pixar-Schmiede, höchstens ein paar Minuten vergangen. Von der in der Bay-Area rund um San Francisco angesiedelten Kreativfabrik, die seit 15 Jahren zu Disney gehört, erwartet man sich längst Freiheiten wie diese. In Inside Out (Alles steht Kopf) führte sie uns in die Psyche einer Elfjährigen, Wall-E erforschte eine postapokalyptische Erde aus der Sicht eines Roboters – nur zwei ihrer Meisterwerke. Der um sein Leben betrogene Joe findet sich wie der tragische Held aus Stairway to Heaven (1946) auf einer Himmelsrampe wieder. Und wählt den schnellen Exit in die andere Richtung. Aber Moment, wohin eigentlich?

Alle Freiheit zur Improvisation

Pete Docter, Regisseur und Kreativchef von Pixar, nennt es das "Große Davor", "The Great Before". "Fast alle Religionen malen sich aus, was passiert, wenn wir sterben", sagt er im STANDARD-Interview, "aber nur ganz wenige sprechen davon, was vor der Geburt eines Menschen passiert." Für erfinderische Geister wie ihn war diese Leerstelle freilich die beste aller möglichen Ausgangslagen. "Wir hatten jede Freiheit der Improvisation. Es begann mit der Idee, dass jeder mit ein paar spezifischen Attributen geboren wird, die seine Persönlichkeit ausmachen, was uns zu der Idee des "The Great Before" inspiriert hat, oder wie es neuerdings genannt wird: "The You Seminar"!

Abgesehen davon, dass diese Welt neuen Zündstoff für die ewige Debatte "alles angeboren" oder "alles anerzogen" bietet, sieht sie reichlich psychedelisch aus. Die kleinen Seelchen, die noch nicht formatiert wurden, könnten den Teletubbies entwischt sein. Die Berater dagegen, die Verantwortung tragen, den Wesen Eigenschaften zu übertragen, wirken wie animierte kubistische Kunstfiguren. Alles ist in blau-violette Farben getaucht, Trent Reznor und Atticus Ross besorgten die fidelen Ambient-Klänge. Docter bestätigt: "Wir haben uns schwedische Künstler angeschaut, Brâncusį war ein Einfluss, Picasso natürlich. Und Alexander Calder, dessen Drahtskulpturen uns sehr inspiriert haben."

Gottähnlich? Im Dienste aller!

Was die Gabe von Pixar betrifft, Figuren charakterstark zum Leben zu erwecken, könnte man einen Vergleich riskieren. Sehen sich die Macher vielleicht selbst in einer gottähnlichen Position – freilich mit dem Unterschied, dass ein Film in sieben Jahren entsteht? Kemp Powers, einer der Drehbuchautoren und Co-Regisseur von Soul, verneint: "Die Berater im ,Großen Davor‘ müssen auch an Höhergestellte berichten! Man fühlt sich nicht wie ein Gott, eher im Gegenteil. Jeder darf zu allem seinen Input geben. Was ist der Unterschied zu gottähnlich? Sklavisch? Nein, im Dienst aller …" Tatsächlich wird bei Pixar jeder Einfall oft mit Publikum getestet.

Powers, dessen Theaterstück One Night in Miami in der Regie von Oscar-Preisträgerin Regina King nächstes Jahr zu sehen sein wird, hat dem Film auch einen persönlich Anstrich verliehen und etwa Joes Mutter nach seiner eigenen modelliert. Er habe einen Doktortitel in Schwarz-Sein, merkt er ironisch an. Joe ist schließlich der erste schwarze Pixar-Held in der 25-jährigen Studiogeschichte, Jamie Foxx leiht ihm seine Stimme in der Originalversion. Ein dem Leben, speziell dem Jazz innig zugetaner Erdenbürger, der eine zweite Chance will – für den ersten richtigen Auftritt. Notfalls auch mit Nummer 22 (Tina Fey), einer nörglerischen Seele, die im "Großen Davor" eine Nische gefunden hat und von dort nie wegwill.

Jazznarr Joe, der tragikomische Held aus "Soul".
Foto: Pixar/Disney

Wie sich die Rückkehr zur Erde abspielt, wurde ein wenig von Seelenwanderungskomödien wie Heaven Can Wait abgepaust. Doch das mindert die Originalität kaum, denn der Zauber von Soul erklingt als Hohelied auf kleine Dinge des Lebens, die man in der Ausrichtung auf hehre Ziele gern einmal vergisst. Der Film ist nicht nur skeptisch gegenüber amerikanischen Selbsterfüllungsideologien, er übersetzt auch die Wesensart des Jazz in die Erzählung – als improvisatorisches Zuspielen von Motiven, die über sich hinaus wachsen.

In der zweiten Hälfte verändert sich Soul in ein in herbstwarmen Farbtönen gehaltenes New York, in dem ein Community-freundlicher Friseur, ein Pizzastück oder eine Brise aus dem U-Bahn-Schacht das eigentliche Glück spenden. Autumn Leaves, oder das Leben als Fantasie darüber, was wir gerade sehr vermissen. Leider nicht im Kino, nur auf Disney+. (Dominik Kamalzadeh, 24.12.2020)