Wie viel Eigenverantwortung dürfen wir uns und anderen zumuten? Im Gastkommentar widmet sich die Philosophin Dina Emundts dem Thema Verantwortung in der Pandemie.

Menschen können viel entbehren und gleichzeitig große Leistungen vollbringen. Aber Covid-19 scheint uns an den Rand unserer Kapazitäten zu bringen. Das ist umso erstaunlicher, als dass die Einschränkungen, denen wir unterliegen, oft gar nicht hoch sind. Tatsächlich bringt uns offenbar etwas an den Rand unserer Kapazitäten, was in vielen Hinsichten weniger dramatisch ist als das, was auch passieren könnte. Ist das ein Zeichen dafür, dass unser Gesellschaftszusammenhalt sowie unsere Staatseinrichtungen schon lange brüchig waren?

Individuelle Freiheit

Zumindest gibt es an die Philosophie derzeit viele Fragen, die sehr grundlegend auf die Funktionen und Strukturen unseres Selbstverständnisses, unserer Gesellschaft und staatlicher Organisationsformen gerichtet sind. Sich darüber zu verständigen, in welchem Sinn wir unsere individuelle Freiheit schützen, gerade dadurch, dass wir das Gemeinwohl fördern und im Einzelfall unsere individuellen Interessen für dieses zurückstellen, ist in Krisenzeiten wichtig. Dazu gehören die Fragen, wie viel Eigenverantwortung wir uns und anderen zumuten dürfen und welche Prozesse das Vertrauen in staatliche Maßnahmen stärken können.

Beim Bezug dieser Fragen auf unsere heutige Situation in Europa sollten wir aber der Gewachsenheit von Selbstverständnissen und Strukturen Rechnung tragen. Vieles ist eine Frage der Passung. Ein autoritärer Staat oder autoritär durchgesetzte Gesetze sind vielleicht theoretisch effektiver, sie sind dies aber in den meisten europäischen Regionen schon aus dem Grund nicht, weil sie tiefergreifende Umformungen und größere Widerstände hervorrufen würden. Die Idee, dass man das Allgemeinwohl schützen muss, ist in den meisten europäischen Gesellschaften ebenso gut verankert wie die, dass die Individuen eigenverantwortlich handeln, aber darin von Institutionen unterstützt werden müssen.

Gelungenes Handeln

Diese historische Gewordenheit ist so essenziell, dass uns auch in Krisen kein anderer Weg als der bleibt, Menschen Eigenverantwortung zuzusprechen und diese zu flankieren durch staatliche und institutionell verankerte Regeln oder Gesetze, die wiederum transparent und kritisierbar sind. In meinen Augen haben das viele Staaten in Europa auch versucht. Dies hat aber keineswegs dazu geführt, dass wir gut mit der Krise umgehen. Warum? Zeigt sich hier nicht doch, dass unser historisch gewordenes System den Bedingungen der neuesten Gesamtentwicklungen nicht gewachsen ist?

Wenn in der Krise Eigenverantwortung gefragt ist, so sollten wir die Bedingungen für gelungenes Handeln in den Blick bringen, um die Gründe dafür freizulegen, warum wir in dieser Krise verzweifeln. Ebenso sollten wir für eine solche Freilegung die Bedingungen für die Anerkennung von Regeln betrachten, wenn im größeren Ausmaß die Neueinrichtung von Regeln nötig ist. Beides – also die Bedingungen gelungener Handlungen sowie die der Anerkennung allgemeiner Reglungen – führt dazu, dass sich vor allem psychologische und pragmatische Probleme als diejenigen zeigen, mit denen wir es im Moment zu tun haben.

"Im Slogan ‚Maske tragen und Abstand halten‘ drückt sich die Sehnsucht nach Verbindlichkeit aus."
Foto: Imago / Viennareport / Leopold Nekula
"Im Slogan ‚Maske tragen und Abstand halten‘ drückt sich die Sehnsucht nach Verbindlichkeit aus."

Was die einen pandemiemüde und die anderen widersetzlich macht, ist erstens die Tatsache, dass die Basis für die eigenverantwortlichen Handlungen und die gesetzlichen Reglungen so unsicher ist, dass daraus keine klaren Richtlinien gewonnen werden können, solche aber aufgrund der Situation, in die die Pandemie uns versetzt, nötig sind. Das ist eine psychologische Belastung. Zweitens ist die Umsetzung von Regeln unter unsicheren Bedingungen mühsam. Das ist ein pragmatisches Problem.

Wenn Virologinnen und Virologen ihre Aussagen machen, so ist es richtig, wenn sie diese in Form von Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten und Hypothesen vorbringen. Wenn Politikerinnen und Politiker auf dieser Grundlage Entscheidungen treffen, ebenso wie wenn wir individuell daraus Handlungsmaximen gewinnen wollen, so ist dies angesichts der Gefahren der Pandemie so zu tun, dass diese Entscheidungen verbindlich und nicht zu kurzlebig sind. Die Basis, auf der sie getroffen werden, ist aber unsicher. Diese Diskrepanz müssen wir in diesen Tagen ständig überwinden. Daher hört man den Slogan "Maske tragen und Abstand halten" oft – darin drückt sich die Sehnsucht nach Verbindlichkeit von Handlungsanweisungen aus. Aber an dieser Verbindlichkeit kommen uns (spätestens) bei den weiteren Entscheidungen (wie der Schließung von verschiedenen Einrichtungen) Zweifel. Das macht diese Krise so herausfordernd.

Noch mehr aufklären

Unsicherheiten auf der einen und Entscheidungserfordernisse auf der anderen Seite gab es zwar immer, aber im Moment sind beide Seiten ausgeprägt: Von einer neuen Krankheit weiß man wenig, und man kann Hypothesen nicht lange prüfen – das ergibt schlechte Bedingungen für motivierte Handlungen. Aber schnelles Handeln ist lebensnotwendig. Diese Diskrepanz wird durch die Weise, wie heute Medien wirken – direkt und durch viele Kanäle –, noch deutlicher. Präsentiert jemand eine Entscheidung als begründet, wird dies nach wenigen Minuten substanziell infrage gestellt und damit die Handlungsmotivation gebremst.

Unser Selbstverständnis als eigenverantwortlich Handelnde steht trotz dieser Probleme meines Erachtens ebenso wenig zur Disposition wie das Eingeständnis in die Unsicherheiten von neuesten Forschungsergebnissen. Daher sind unsere Probleme zunächst nicht politischer, sondern psychologischer und pragmatischer Natur. Zugleich sollten wir politisch zunehmend mit solchen Problemen rechnen. Der richtige Umgang mit ihnen könnte kurzfristig darin bestehen, (noch) mehr über Gründe aufzuklären. Langfristig sollten wir uns politische Strategien überlegen, wie wir die Diskrepanz von Unsicherheiten und Handlungsbedarf aushalten können. (Dina Emundts, 25.12.2020)