Rudolf Anschober sitzt in seinem Bürosessel wie ein Pilot, der gerade abhebt – bei schlechter Sicht. Das Sakko hat er ausgezogen, die Hemdsärmel hochgekrempelt. Den Oberkörper steif zurückgelehnt, umklammert der Gesundheitsminister die Armlehnen. Anschober presst die Lippen aufeinander, die Augen hält er leicht zusammengekniffen. Franz Allerberger, Infektiologe und Leiter der staatlichen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit, schiebt das Stäbchen noch ein Stückchen weiter in die Nase des Ministers, dreht es, dann zieht er es wieder heraus. Anschober schluckt. Es ist der 14. Dezember, er kennt die Prozedur seit vielen Monaten – aber wesentlich angenehmer wird sie auch durch Gewohnheit nicht.

Vor dem Trakt zu Anschobers Büro wurde im Sozialministerium ein gigantischer Christbaum aufgestellt. Privat setzt der Grünen-Politiker auf lebendige Christbäume im Topf – die er danach im Garten aussetzt,
wo inzwischen ein kleiner Christbaumwald steht.
Foto: Christian Fischer

Kein Diktat der Gedanken

Allerberger, Jeans, Maske, rahmenlose Brille, testet den Minister zumeist persönlich – inzwischen zweimal pro Woche. Das Test-Kit hat er immer in seiner Brusttasche stecken. Die Zeit nutzt er auch, um Anschober upzudaten. Heutiges Tagesthema: die brandneuen Corona-Selbsttests. Der Minister soll gleich einen ausprobieren. Er bekommt ein kürzeres Wattestäbchen in die Hand gedrückt und lässt es in seinem rechten Nasenloch kreisen. "Man muss es nur zwei bis drei Zentimeter hineinstecken", instruiert Allerberger. "Fühlt sich an, als ob man mit dem Zeigefinger in der Nase bohrt." Anschober nickt.

Allerberger ist nicht unumstritten, er hat die Wirksamkeit einer Maskenpflicht mehrfach infrage gestellt. Anschober ist zwar oft anderer Meinung als er, hält an seinem Haus-und-Hof-Infektiologen aber fest. Menschen dürfen verschiedene Ansichten vertreten, ist er überzeugt – obwohl auch ihn die Aussagen Allerbergers geärgert haben. "Aus unterschiedlichen Meinungen kann ich mir eine eigene bilden", sagt Anschober.

Auf das Schnellteststäbchen wird in einem kleinen Plastikbehälter Flüssigkeit geträufelt und danach auf einen Teststreifen gekippt. "In spätestens 15 Minuten haben wir das Ergebnis", verspricht Allerberger. "Bald werden das alle zu Hause machen – wie Schwangerschaftstests." Die beiden Ergebnisse will er Anschober später per SMS mitteilen. Der Minister wischt sich eine Träne aus dem Auge und lächelt. Alles gut. Die lästigen Tests gehören dazu, auch wenn er es nicht gerne macht – wie so vieles in dieser Pandemie.

Anschober soll uns durch die Krise führen, das hat er sich nicht ausgesucht, es ist trotzdem sein Job. Sieben Tage die Woche.

Erschöpfend

Vier Tage später trottet er neben seinem Golden Retriever Agur zum Bahnsteig. Der Westbahnhof ist gespenstisch leer, die Ausgangsbeschränkung gilt seit knapp eineinhalb Stunden. Über Wien liegt kalter Nebel, vor drei Stunden hat die Regierung den dritten Lockdown verkündet, der nach Weihnachten einmal mehr alles stilllegt. Um 21.42 Uhr setzt sich die letzte Westbahn in Richtung Linz in Bewegung. Eigentlich wollte Anschober für die Heimreise einen früheren Zug nehmen, aber es ging sich nicht aus – wie so oft. Er sucht im oberen Stock des Doppeldeckers einen Platz. Agur bettet sich zu seinen Füßen. Der Tag war erschöpfend, die Woche. Das ganze Jahr.

Anschober sagt, er sei groggy. Er sieht müde aus, jedenfalls keinen Tag jünger als die 60 Jahre, die er ist. Die vergangenen zwei Nächte hat er mit Kanzler Sebastian Kurz und wechselnden Ministern in Telefonkonferenzen verbracht, stundenlang bis früh in den Morgen. "Solche Entscheidungen werden schrittweise getroffen", erklärt Anschober. "Wir sagen nicht: Lockdown oder nicht – wir arbeiten uns da Maßnahme für Maßnahme langsam heran."

Selbst ohne große Regierungsverkündigung hat sein Arbeitstag seit Ausbruch der Pandemie im Schnitt 14 bis 16 Stunden. Eigentlich hatte er vor, wenigstens die Wochenenden freizuhalten, um nach Hause zu fahren. "Auf dem ersten Hügel vor Linz" besitzt er ein Haus mit seiner Lebensgefährtin, den drei Katzen und Agur. Zumindest Samstag und Sonntag zum Nachdenken, Lesen von Studien, Runterkommen, das war der Plan. Er hat ihn seit Monaten nicht mehr eingehalten. Er pendelt zwar alle zwei Wochen – aber nur, um dann zwei Tage von Linz aus zu arbeiten.

Der Gesundheitsminister hat sehr, sehr viele Medientermine.
Foto: Christian Fischer

Leben und mitnaschen lassen

Die ständige Medienpräsenz hat den Oberösterreicher im ganzen Land bekannt gemacht. Wenn man auf der Straße fragt, wer die zehn Gesundheitsminister vor ihm waren, werden sie den wenigsten einfallen. Anschober hingegen kennt jeder. Er ist der Corona-Prediger, der Herr über die Maßnahmen, die seit bald einem Jahr unser Leben bestimmen. Nett, doch bestimmt erklärt er, was wir tun dürfen und was nicht. Er ist der Erziehungsberechtigte der Nation, unser Gesundheitskrisenminister.

Agur lässt die Zunge heraushängen und beginnt unter dem Tisch der Vierersitzecke laut zu schnaufen. "Oh, habe ich dir den Panettone direkt vor die Nase gelegt", entschuldigt sich der Minister beim Hund. Die italienische Köstlichkeit haben ihm Freunde aus Bologna geschickt, die er seit Ewigkeiten besuchen will. "Aber Agur bekommt kein Menschenessen", sagt Anschober streng.

Es war so: Dem Hund, den er vor Agur hatte, konnte er kaum einen Wunsch abschlagen – und ließ ihn immer wieder mitnaschen. Doch irgendwann wurde der Hund krank, und der Tierarzt meinte: könnte auch an der Ernährung liegen. Das badet Agur nun aus.

Die Geschichte ist aber auch irgendwie typisch für den Gesundheitsminister. Er will großzügig sein, Freiheit gewähren, leben lassen. "Er stößt die Leute ungern vor den Kopf", hört man vom Koalitionspartner. "Er versucht es allen recht zu machen." Aber wenn irgendetwas schiefgeht, nimmt Anschober das persönlich – und will das Ruder krampfhaft wieder herumreißen.

Drei Prognosen, drei Ergebnisse

Als der Zug in Tullnerfeld hält, packt er sein iPad aus und ruft mit einem Online-Grafiktool die Infektionsentwicklung in verschiedenen europäischen Ländern auf. Deutschland befinde sich nun an der Kreuzung zu Österreich. Bisher stand das Nachbarland deutlich stabiler da, jetzt steigt dort die Zahl der Ansteckungen. "Schlimm, der deutsche Trend", sagt er. Insgeheim empfindet er aber womöglich späte Genugtuung: Wochenlang hielten ihm die Medien andere Staaten vor, in denen es besser lief als in Österreich. "Die zweite Welle ereilt fast ganz Europa, nur zeitversetzt", konterte er darauf. Jetzt fühlt er sich bestätigt.

Aber auch in Österreich ist man weit entfernt von einer Beruhigung der Lage, das weiß Anschober besser als jeder andere. Lange hatte die Regierung darüber gebrütet, wie man das Land über die Feiertage retten soll. Drei Prognoseinstitute wurden beauftragt, die Entwicklung nach Weihnachten vorherzusagen. "Sie sind zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen", sagt Anschober. "Von leicht sinkenden Infektionszahlen bis hin zu einer deutlichen Steigerung." Eine solche Unklarheit in der Prognose habe es zuletzt im Oktober gegeben – bevor sich die zweite Welle so richtig aufbäumte.

Es sagt sich so leicht: Die Politik soll faktenbasierte Entscheidungen treffen. Aber was, wenn es verschiedene Aussagen gibt? Man muss den Mittelweg finden, irgendwie. Und trotzdem befindet man sich streckenweise im Blindflug. Anschober ist das in der Hektik der unübersichtlichen Pandemie inzwischen gewöhnt – auch wenn es seinem Naturell widerspricht. Er hört lieber länger zu, als schnelle Antworten zu geben. "Ich schlafe gerne noch einmal über die Dinge, bevor ich eine Entscheidung treffe", sagt er. Aber durch die Krise ist er pragmatisch geworden.

Schulen zu, Silvester neu

Die Grünen haben sich lange gegen Schulschließungen gewehrt. Nun bleiben die Kinder auch im dritten Lockdown zu Hause, starten aus den Ferien erneut im Distanzunterricht. Nach der ganzen Unsicherheit rund um die tatsächlichen Corona-Regeln im Herbst, einigen missverständlichen und zwei vom Höchstgericht aufgehobenen Verordnungen, wollte Anschober diesmal eigentlich klarer kommunizieren. Doch auch die bereits verkündeten Silvesterregeln mussten noch einmal geändert werden. Kaum jemand kennt sich noch aus, was alles erlaubt ist – und was nicht. Manchmal scheint es, als hätte die Regierung auf dem Weg aus der Krise ihr Volk verloren. "Man muss tun, was gerade richtig ist, ob es gefällt oder nicht", sagt jemand von der türkisen Seite des Krisenteams. Dem würde Anschober nicht widersprechen.

Pressekonferenzen bestreitet Anschober meistens mit Taferl.
Foto: Hans Klaus Techt

Der Minister atmet tief in seine weiße FFP2-Maske und schaut aus dem Zugfenster in die Nacht. Es ärgere ihn, dass der Boulevard schon wieder vor der geplanten Pressekonferenz über die halbfertigen Regierungspläne berichtet hat. Diese voreiligen Häppcheninformationen würden auch nicht gerade helfen, um Klarheit zu schaffen. Er fragt sich, wer diesmal das Leck war. Viele kommen nicht infrage, wenige waren eingeweiht. Er seufzt. Agur ist eingeschlafen.

Früher ein Überzeugungstäter

Als Anschober vor fast einem Jahr sein Büro im Gesundheits- und Sozialministerium bezog, sah die Welt noch ganz anders aus: Corona war eine Lungenkrankheit im chinesischen Wuhan, die sich vermutlich nicht einmal von Mensch zu Mensch überträgt – und er ein politischer Überzeugungstäter.

An der Wand gegenüber seinem Schreibtisch hängt in Übergröße gerahmt das Falter-Titelblatt von Dezember 2018. Die Wiener Wochenzeitung hatte ihn als "Mensch des Jahres" zum Coverboy gemacht, weil er als oberösterreichischer Umwelt- und Integrationslandesrat die Initiative "Ausbildung statt Abschiebung" gestartet hatte. Sein Gegenspieler in der Causa: Sebastian Kurz. Der verwehrte als Kanzler der türkis-blauen Regierung Asylwerbern die Lehre. Kurz habe "ihre letzte Integrationsmöglichkeit zerstört", wetterte Anschober – sechs Monate bevor die Grünen mit der Kurz-ÖVP koalierten.

Heute spricht er über den Kanzler weder übermäßig nett noch unfreundlich. Das Verhältnis sei "professionell", betonen beide Seiten. Kurz und Anschober telefonieren viel. Im Sommer habe es Spannungen gegeben. Die Rede ist von Eifersüchteleien, weil einer dem anderen ins Revier grätscht. Doch sobald die Krise Fahrt aufnimmt, finde man schnell zueinander, hört man aus der ÖVP. Anschober sei dafür Realist genug.

Bei Verhandlungen werde Anschober nie laut. Er sei eher beharrlich, um sein Ziel zu erreichen. Wenn es ihm irgendwann reiche, sage er fast trotzig Sachen wie: "Aus, Ende, so ist das jetzt." Schlussendlich könne man sich dennoch immer einigen.

Auch Anschober betont gerne das "super Teamwork" mit Kurz. Das mag sogar stimmen. Dabei könnten der jung-dynamische, konservative Kanzler und das eher stetige grüne Urgestein unterschiedlicher kaum sein. "Wir ergänzen uns in unserer Arbeit", sagt Anschober wohlwollend. Doch abgesehen von der Krise verbindet die beiden Männer wenig. Es ist eine politische Zweckgemeinschaft. Nicht mehr, nicht weniger.

Auch die Teams von Kanzler und Gesundheitsminister haben kaum etwas gemein. In Anschobers Kabinett arbeiten viele Frauen, alle Mitarbeiter sind ministeriell unerfahren und haben den Anspruch, es besser zu machen: redlich arbeiten, bloß keinem auf die Füße steigen. Nicht so werden wie die, die man früher kritisiert hat.

Kurz’ Truppe beherrscht das Spiel

Die Mannschaft von Kurz ist männlich und in Ministerien groß geworden. Sein Kabinett beherrscht das politische Spiel zur Perfektion – im Guten wie im womöglich nicht so gut Gemeinten. "Wenn man mit ihnen zusammensitzt, reflektieren sie auch selbst, dass sie manchmal noch im destruktiven Modus aus ihrer Zeit in der SPÖ-Koalition sind", erzählt jemand aus Anschobers Kabinett. Die ÖVP lasse das grüne Gesundheitsressort schon manchmal anrennen – etwa wenn es um die juristischen Fehler und Patzer gehe.

Die Türkisen argumentieren: Man unterstütze, wo man könne, aber für die Corona-Verordnungen sei nun einmal Anschober letztverantwortlich.

Der bleibt vor allem eines – ruhig. Diese fast stoische Ausstrahlung lässt ihn sonst vielleicht etwas langweilig wirken, gerade zu Beginn der Krise vermittelte er dadurch aber auch, wonach sich viele sehnen: Sicherheit. Anschobers fast schon Zen-buddhistisches Gemüt zeigt sich sogar körperlich. Seine Mimik passiert fast ausschließlich in seiner unteren Gesichtshälfte. Er zieht nie die Augenbrauen hoch, runzelt kaum die Stirn. Wenn er lacht, vertiefen sich seine Augenfalten nicht. Die schwarze Brille sitzt immer fest auf seiner Nase. Anschobers Blick ist fokussiert, fast starr. Er schaut Menschen an, als wolle er ihnen Trost spenden.

Gleichzeitig ist er Großmeister unauffällig widersprüchlicher Botschaften à la: Kein Grund zur Panik, aber es ist sehr ernst. Wir werden uns darum kümmern, können aber nichts versprechen. Es droht keine zweite Welle, aber der Herbst wird gefährlich.

Man kann dieses Verhalten vorsichtig und abwägend nennen. Aber auch unentschlossen, verwirrend, zermürbend.

Die ersten Fälle in Tirol

Als Ende Februar Österreichs erste offizielle Covid-Fälle bestätigt werden, ist Anschober gerade in Rom gelandet. Er will sich mit ein paar europäischen Gesundheitsministern treffen, um die Entwicklung der neuen Krankheit zu besprechen. Sein Handy läutet. Landeshauptmann Günther Platter berichtet, dass eine 24-jährige Hotelangestellte und ihr gleichaltriger Freund in Tirol positiv getestet wurden. "Danach ging es los", erinnert sich Anschober. Den restlichen Tag läuft er im Garten der österreichischen Botschaft in Rom auf und ab und telefoniert – mit Sebastian Kurz, anderen Ministern, Experten. Ein Krisenstab wird eingerichtet.

Anschober betont gerne das "super Teamwork" mit Kurz. Das mag sogar stimmen. Dabei könnten der jung-dynamische, konservative Kanzler und das eher stetige grüne Urgestein unterschiedlicher kaum sein.
Foto: Matthias Cremer

Trotzdem, erzählt Anschober, habe es einige Zeit gedauert, bis er tatsächlich das volle Ausmaß dieser Krise erfassen konnte: "Erst im Lauf des März habe ich in ganzer Dimension begriffen, was da auf uns zukommt." Da trat schon der erste Lockdown in Kraft. "Es gab keinen rechtlichen Rahmen, keinen brauchbaren Pandemieplan. Dazu dieses Tempo. Es fühlte sich manchmal an wie ein beginnender Albtraum."

Der Zug hält in Amstetten, inzwischen ist es 23 Uhr. Agur schläft tief und fest. Anschobers Arbeitstag will hingegen kein Ende nehmen, er muss noch drei Interviews autorisieren. Der Minister hat vier bis zur Selbstaufgabe engagierte Presseleute, aber solche Aufgaben gibt er nicht ab. Während seiner Zeit als Landesrat in Oberösterreich hatte er den Ruf, quasi täglich eine Presseaussendung zu verschicken – und jede selbst zu schreiben.

Acht Jahre ist es her, dass Anschober zum damaligen schwarzen Landeshauptmann Josef Pühringer ging und ihn über sein Burn-out informierte. Der habe überrascht reagiert, ihn aber sehr unterstützt. Drei Monate blieb er im Krankenstand.

Heute ist die Belastung noch einmal deutlich höher, aber Anschober hat Strategien entwickelt. Wochentags, irgendwann zwischen fünf und halb sieben Uhr Früh, sieht man ihn an seinem "Platzerl" am Donaukanal stehen. Agur steuert beim täglichen Morgenspaziergang zielgenau dorthin. Dann macht der Minister Qigong, chinesische Meditations- und Bewegungsübungen. Mehr als zehn Minuten gehen sich selten aus. "Aber schon wenn ich den Platz sehe, setzt der Energiefluss ein." Anschober ist kein esoterischer Mensch, aber darauf bedacht, auf sich und seine Umwelt zu achten. Auch wenn das gar nicht immer so einfach ist.

Im Dauerkreuzfeuer

Durch die Pandemie ist Anschober pragmatisch geworden, nicht aber emotionslos. Sie nimmt ihn sichtlich mit. Zwischen Frühherbst und Winter wurde er mit jeder neuen Corona-Statistik ruhiger und ernster. Im Juli holte der Gesundheitsminister den das Ranking bis dahin unangefochten anführenden Kanzler als beliebtesten Regierungspolitiker des Landes ein. Im November dreht sich der Wind wieder etwas. Anschober steht nun – wie der Rest der Regierungsmannschaft – im Dauerkreuzfeuer. Journalisten, die Twitteria, Leute auf der Straße, alle fordern Antworten: Wurde der Sommer verschlafen? Wieso hat die Regierung nicht früher gehandelt? Warum mussten tausende Menschen sterben?

Anschober hat darauf selbst noch keine richtig befriedigenden Antworten gefunden. Was im Oktober passiert ist, hält er für ein "absolutes Rätsel". Kein Experte habe ihm die Wucht der zweiten Welle in ganz Europa bisher schlüssig erklären können.

"Es gab keinen rechtlichen Rahmen, keinen brauchbaren Pandemieplan. Dazu dieses Tempo. Es fühlte sich an wie ein beginnender Albtraum." Rudolf Anschober

Anschober hat zwei Thesen, wobei er keine für endgültig richtig hält. Die erste lautet: Das Virus ist auch in Österreich längst mutiert und ansteckender als im Frühjahr. Nachweis gibt es dafür aber keinen. Der zweiten These zufolge habe durch die Grenzöffnungen im Sommer ein Austausch stattgefunden, der die vielen kleinen regionalen Cluster verstärkt hat – sodass sich das Virus viel schneller in der Fläche verbreiten konnte. "Wahrscheinlich spielen mehrere Dinge gleichzeitig eine Rolle", sagt Anschober. "Wir wissen es einfach noch nicht gesichert."

Populisten und Überlebende

Mitte Dezember sitzt Anschober in seiner Elektro-Dienstlimousine auf dem Rückweg von einer Veranstaltung der Arbeiterkammer. Er ist unzufrieden mit seinem Auftritt. "Ich war zu oberflächlich", sagt er selbstkritisch. Für Themen abseits von Corona bleibe einfach zu wenig Zeit. Seine Mitarbeiterin will beschwichtigen, da bimmelt sein Handy. Eine SMS von Ages-Chef Allerberger: Anschobers Selbstversuch war erfolgreich. Beide Tests vom Vormittag sind negativ.

Als der Fahrer gerade bei einer Ampel hält, entdecken Anschober und die Mitarbeiterin ein Plakat an einer Hauswand: "Wir werden Corona überleben, allein um zu sehen, wie die Populisten untergehen", ist darauf zu lesen. "Cool", findet die Referentin und macht ein Foto. "Wirklich cool", sagt Anschober. Nach kurzem Schweigen setzt sie noch einmal an: "Oder meinen die uns, Rudi?" Mit uns – da meint sie die Regierung. "Weil wir überleben?", witzelt der Minister.

Verstanden fühlt er sich, wenn er mit den Gesundheitsministern anderer europäischer Länder spricht. Da zeige sich nämlich: Es geht allen sehr ähnlich. "Diese Gespräche sind manchmal wie Therapiesitzungen", erzählt Anschober.

Berufs-Wahlwiener

Mit dem deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn tausche er sich laufend per SMS über die aktuellen Entwicklungen aus. Wenn er über Spahn spricht, fällt aber noch etwas auf: Anschober betont gerne, wie sehr der deutsche Christdemokrat und er einander mögen und schätzen – und klingt dabei, als wäre das ungewöhnlich für einen Grünen und einen Konservativen. Fast so, als hätte er in der Krise vergessen, mit wem er in Österreich koaliert.

Anschober ist nun Berufs-Wahlwiener, entspricht aber definitiv nicht dem Klischee eines Hauptstadt-Grünen. Er ist kein Bobo. Auch Grünen-Chef Kogler ist ein ganz anderer Typ als Anschober.

Im Spätsommer treffen sie einander zu ihrem wöchentlichen Arbeitsmeeting in der Strandbar Herrmann am Donaukanal. Da wird der Gegensatz zwischen den beiden deutlich.

Anschober trägt – wie fast immer – ein weißes Hemd, Krawatte und Anzug im selben Blauton. Er hat die grasgrün gesprenkelte Maske auf, die längst zum Markenzeichen des Gesundheitsministers wurde. Inzwischen besitzt er sieben oder acht stoffgleiche Modelle. Ein Arzt aus Tirol hatte ihm die erste geschickt. Seit er Anschober damit im Fernsehen sah, lässt er ihm laufend weitere zukommen. Man soll sie ja waschen und wechseln.

Im Sommer trifft Anschober Vizekanzler Werner Kogler zum Arbeitsmeeting in einer Strandbar am Wiener Donaukanal.
Foto: Christian Fischer

Zum Termin geht er zu Fuß, seine Social-Media-Beauftragte begleitet ihn, damit er den Weg sicher findet. Die Bar liegt ein paar Gehminuten vom Ministerium entfernt, aufgeschütteter Sand, Liegestühle, viele junge Leute und große Plastikbecher mit Spritzwein. Kogler, Jeans, knittriges Hemd, Sonnenbrille im Haar, wartet schon unter einem großen Sonnenschirm. "Servas", ruft er und begrüßt Anschober mit Ellbogen-Check, nachdem der sich mit den Lederschuhen durch den Sand gekämpft hat. Kogler fügt sich in das Setting, Anschober wirkt ein wenig fehl am Platz.

Witzelt Unangenehmes weg

Dabei ist Anschober nicht verklemmt, ganz im Gegenteil. Er hat Sinn für Humor und kann herzlich über sich selbst lachen. Auf seinem Schreibtisch steht eine Schneekugel, in der weiße Flankerln um eine Klopapierrolle schweben. Ein mahnendes Denkmal an den ersten Lockdown.

"Diese Gespräche sind manchmal wie Therapiesitzungen." Rudolf Anschober über Telefonate mit anderen europäischen Gesundheitsministern

Seine Assistentin stöhnt häufig, weil sich Anschober bei fast jedem Termin verplaudert und überzieht. Aber er witzelt sich über unangenehme Situationen hinweg. Einmal kommt er erst um 12.27 Uhr im Foyer seines Büros an – fast eine halbe Stunde nachdem im Dachgeschoß eine Pressekonferenz hätte beginnen sollen. Zwei Ärzte, die ebenfalls teilnehmen, warten seit gut einer Stunde auf die Vorbesprechung. Als Anschober endlich da ist, grinst er sie unter der Maske an. "Jetzt machen wir die berühmte Eineinhalb-Minuten-Besprechung", sagt er. "Der ganz konkrete Plan lautet: Ich fange an, und ihr tuts weiter."

Weitertun, und zwar pausenlos, das ist derzeit eigentlich eher Anschobers Mantra. Weihnachten verbringt er im Haus in Linz, mit der Lebensgefährtin, Retriever Agur, den Katzen. Wie jedes Jahr wurde ein Christbaum im Topf angeschafft. Wie jedes Jahr wird er nach Weihnachten im Garten ausgesetzt, wo schon ein kleiner Wald an Christbäumen steht. Anschober wird von Linz aus arbeiten. Er hat sich zwei Bücher gekauft, die er lesen möchte. Mal sehen.

Der ganze Wahnsinn, die Action des letzten Jahres – eigentlich war alles ganz anders gedacht. Ohne Pandemie wäre das grüne Vorzeigeressort jenes von Umweltministerin Leonore Gewessler geworden – Energiewende, 1-2-3-Ticket, kerngrüne Themen eben. Kogler hätte mit einigen vertrackten Sätzen und ein paar Schmähs die türkisen Prestigeprojekte schöngefaselt. Die eloquente Justizministerin Alma Zadić wäre verstärkt im Rampenlicht gestanden. Und Anschober? Anschober hätten Journalisten womöglich als farblos beschrieben. Seine Kernaufgabe: solide Sozialpolitik – und nebenbei das Gesundheitsressort. Wäre, wäre – wäre es nicht anders gekommen.

Anschober ist meistens zu Fuß unterwegs. Wenn möglich, sogar zu Terminen, jedenfalls im Ministerium. Oft sieht man ihn über Stiegen stapfen. Den Lift benützt er nur auswärts oder wenn er ins Dachgeschoß muss, wo Pressekonferenzen stattfinden.
Foto: Christian Fischer

Durch die Corona-Pandemie wurde nun aber ausgerechnet jener zum Frontrunner der Koalition, der mit seiner politischen Karriere nicht mehr wahnsinnig viel vorhat; der glaubhaft versichert, nicht einmal am Amt des Bundespräsidenten, das ihm manche zutrauen, ernsthaftes Interesse zu haben. Der eigentlich in diesem Jahr in Ruhe eine Pflegereform erarbeiten wollte.

Wie ist die Krisenbewältigung Anschobers nach einem Jahr also zu bewerten? Wurde richtig entschieden? In der Welt der Politik gelten Fehler oft als unverzeihlich; sind die Verordnungspannen lässliche Sünden? Hat die Regierung – und damit Anschober – alles getan, was sie konnte?

Ein Roman entsteht

Woran soll man es wirklich messen? Es gibt keine vergleichbare Krise und keinen zweiten österreichischen Krisenminister, den man als Maßstab heranziehen könnte. Handeln seine Amtskollegen Jens Spahn in Deutschland, Matt Hancock in Großbritannien oder Alain Berset in der Schweiz besser? Woran bemisst man "Erfolg" – an weniger Toten? Noch stecken wir mitten in der Krise. Die Zahlen sind volatil. Wer gerade "Musterschüler" ist, kann bald die nächste Welle erleben – wir kennen das selbst.

Rudolf Anschober holt Fachwissen ein, hört zu und handelt überlegt. Er überschätzt sich nicht und schielt bei seinen Handlungen nicht bereits auf die nächste Wahl. Er ist ein Politiker, aber kein Populist: Das ist in dieser Situation vermutlich schon einiges wert.

Als Landesrat von Oberösterreich ging Anschober 2003 die österreichweit erste Koalition zwischen Grünen und ÖVP ein. Ein Jahr später zog er in einem Buch darüber Bilanz. Am 7. Jänner 2021 ist der erste Jahrestag der türkis-grünen Bundesregierung. Plant er dazu wieder etwas? Eigentlich nein, sagt er. Selbst wenn die Pandemie endlich überstanden sei, werde er kein Buch darüber schreiben. Um zu verstehen, was in diesem Krisenjahr passiert ist und was seine Rolle war, dafür braucht er noch. "Es ist immer einfacher, das Buch von hinten zu lesen." Das ist einer seiner Standardsätze, vermutlich wird er ihn auch dann wieder sagen.

Am Ende dieses irren Jahres 2020 geht es dem Gesundheitsminister auch nicht anders als uns allen: Er sehnt sich nach Ruhe. Wenn die Krise vorbei ist, möchte er an seinem ersten echten Roman arbeiten. Den Titel hat er, der Plot steht. Es soll um eine junge Frau in der Zukunft gehen, die am Tag eines Klimagipfels geboren wurde – und um die Umwelt.

Zumindest dieser Plan ist so gar nicht pragmatisch. Da würde er einfach endlich wieder tun, worauf er Lust hat. (Katharina Mittelstaedt, 25.12.2020)