Kaum eine Familie war in dieser Vorweihnachtszeit nicht im Stress – je verstreuter ihre Mitglieder, desto stressiger. Schwierige Überlegungen waren anzustellen: Wann lasse ich mich testen, damit ich Eltern und Großeltern besuchen kann? Reserviere ich den spätestmöglichen Zeitpunkt, oder nehme ich ein paar Tage Quarantäne davor in Kauf? Lasse ich mich gar alle zwei Tage testen, um größtmögliche Sicherheit zu erlangen? Habe ich meinen Termin in der Teststraße rechtzeitig reserviert oder mich um Alternativen gekümmert? Die Menschen in Österreich nahmen in diesem Dezember einiges auf sich, um mit ihren Lieben Weihnachten feiern zu können. Man rückt zusammen: mit der Familie, mit nahen Freunden und Nachbarn.

Jeder tut sein Möglichstes, um für größtmögliche Sicherheit in der Familie zu sorgen.
Foto: APA/HARALD SCHNEIDER

Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingt. In den Jahren vor Corona war eher ein gegenläufiger Trend zu beobachten. Wichtig war der individuelle Wohlfühlfaktor zu Weihnachten. Alles kreiste um die Frage: Was tut mir gut, und was tu’ ich mir lieber doch nicht an? Ist der Besuch bei der schwerhörigen Urgroßtante mit den seltsamen Ansichten wirklich nötig? Weil: Die kann man auch ein anderes Mal besuchen, Weihnachten ist auch nur ein Datum im Jahr. Das andere Mal ergibt sich dann nur leider nie.

Heuer scheint es bei vielen genau andersherum zu laufen: Was tut der Oma gut, was darf ich gerade noch tun, um niemanden zu gefährden? Wie können wir es anstellen, dass auch die schwerhörige Urgroßtante beim Weihnachtsfest dabei sein kann? Die Teststraßen in Wien waren bald ausgebucht, jeder tat sein Möglichstes, um für größtmögliche Sicherheit in der Familie zu sorgen. Aus Solidarität mit denen, die schwächer sind, für die dieses Virus gefährlich ist.

Vernünftiges Verhalten

Auch für die Politik ist das erfreulich, weil es ein epidemiologisch vernünftiges Verhalten der Menschen im Anlassfall zeigt. Die Regierung kann daraus nützliche Lehren ziehen. Während angeordnete Massentests zu einem relativ willkürlich gewählten Datum auf kein besonders großes Echo stoßen, gibt es einen Run auf Covid-Tests, wenn die Menschen sehen, dass sie einen persönlichen Nutzen davon haben. Vielleicht ist es besser, die Tests flächendeckend, jederzeit und möglichst niederschwellig anzubieten – damit jede und jeder sie dann zur Hand hat, wenn sie gebraucht werden. Das gäbe den in diesem Krisenjahr doch recht stark bevormundeten Menschen einen Teil ihrer persönlichen Freiheit wieder.

Die zweite Erkenntnis, vor allem für den türkisen Teil der Regierung, könnte sein: Je mehr Familiensinn und das Da-sein für einander wieder an Wert gewinnen, desto stärker steigt der Wert von Solidarität an sich in der Gesellschaft. Dass die Bilder der elenden Flüchtlingslager auf Lesbos gerade jetzt wieder so stark ins Bewusstsein dringen, ist weder dem 24. Dezember noch "linken" Menschenrechtsaktivisten geschuldet. Die Empörung über diese unhaltbaren Zustände, den Schandfleck Europas in der Ägäis, kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Und sie kommt auch mitten aus der ÖVP, aus den kirchlichen Kreisen, die in dieser Partei immer einen hohen Stellenwert hatten. Viele Menschen wollen nicht länger wegschauen, weil sie mit den Familien dort fühlen – in dem Ausmaß, in dem sie auch den Wert ihrer eigenen Familien wieder stärker fühlen. Wenn der Kanzler und sein Umfeld dies erkennen würden – das wäre wohl die gelungenste Weihnachtsüberraschung. (Petra Stuiber, 24.12.2020)