Lange Staus vor dem Hafen von Dover gehörten für viele britische Unternehmen zu den Albtraumszenarien.

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Zumindest der ganz große Druck ist endlich draußen. Dass die Post-Brexit-Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU am Donnerstag doch noch mit einer Einigung endeten und ein No-Deal-Szenario ab 1. Jänner damit vermieden werden konnte, war auch bei britischen Wirtschaftsvertretern zunächst einmal Anlass zur Freude. Zölle, Quoten und weitere kilometerlange Staus an den Grenzen hätten viele Bereiche der Ökonomie an die Grenze des Kollaps geführt, sind sich Unternehmensverbände und Interessensvertretungen in London weitgehend einig.

"Angesichts dessen, dass vier Fünftel der britischen Nahrungsmittelimporte aus der EU kommen, sollten sich die Haushalte in ganz Großbritannien einen kollektiven Seufzer der Erleichterung gestatten", sagte etwa Helen Dickinson, Chefin des British Retail Consortium (BRC), eines Dachverbands von Einzelhandelsunternehmen. Immerhin habe das Abkommen Konsumentinnen und Konsumenten auf beiden Seiten des Ärmelkanals vor milliardenschweren Importzöllen auf Güter des täglichen Bedarfs bewahrt, so Dickinson.

"Unmögliche Aufgabe"

Inmitten des großen Aufatmens waren aber auch die kritischen Stimmen deutlich zu hören. Etwa jene von Adam Marshall, dem Generaldirektor der britischen Handelskammer: Nach vier langen Jahren der politischen Unsicherheit, also seit dem Brexit-Referendum des Jahres 2016, könnten die Unternehmen nun, nur wenige Tage vor dem Ende der Übergangsfrist, kaum mehr für den Deal aufbringen als verhaltenen und lustlosen Jubel. "Vergessen wir nicht, dass viele Firmen bereits durch die Auswirkungen der Coronakrise in die Knie gezwungen wurden", erklärte Marshall.

Diese würden nun über noch weniger Ressourcen verfügen, um die durch das Abkommen nötig gewordenen Anpassungen mit dem geringeren Personalstand zwischen Weihnachten und Neujahr noch schnell zu implementieren: "Die Regierungen auf beiden Seiten müssen erkennen, welch unmögliche Aufgabe sie den Unternehmen aufgebürdet haben. Und müssen diesen Zeit geben, um durchzuatmen und sich auf die neuen Realitäten einzustellen", so Marshalls Forderung.

Angst vor Engpässen

Ins selbe Horn bläst Ian Wright, CEO der Food and Drink Federation, eines Verbands von Unternehmen aus der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie: Premier Boris Johnson habe den britischen Firmen eine ausreichend lange Übergangszeit versprochen, während derer sie sich auch nach dem formellen EU-Austritt des Landes, der am 1. Februar 2020 vollzogen wurde, an die neuen Regeln anpassen könnten. "Gegeben hat er uns vier Arbeitstage", so Wright.

Lebensmittel- und Getränkehersteller würden zwar ihr bestes geben, um den Warenverkehr weiterhin sicherzustellen. Das – vor allem Corona-bedingte – Verkehrschaos rund um den Hafen von Dover diese Woche und die Verabschiedung des Deals auf den letzten Drücker würden dennoch bedeuten, dass Störungen bei der Versorgung zu erwarten seien und einige Preise steigen würden. "Enttäuschte Konsumenten werden sich nun fragen, warum der Abschluss des Deals so lange gedauert hat."

Auch Stephen Phipson, Chef von Make UK, einer Interessensvertretung von Betrieben aus den Bereichen Technik und Ingenieurswesen, will "das Weihnachtsgeschenk der Regierung" nur sehr vorsichtig willkommen heißen: "Zölle und Quoten wären eine Katastrophe für die Exportwirtschaft gewesen. Aber wir müssen das Ganze jetzt noch mit dem feinen Kamm durchbürsten, um genau zu verstehen, was die Auswirkungen auf die Hersteller sein werden." (Gerald Schubert, 25.12.2020)