Der Handelsvertrag zwischen Großbritannien und der EU beendet einen jahrelangen Gesprächsmarathon

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Ursula von der Leyen und Boris Johnson haben es also doch noch rechtzeitig geschafft. Ausgerechnet am Weihnachtstag – wenige Stunden, bevor in den europäischen Wohnzimmern die Familienfeiern begannen – konnten ihre Verhandler in Brüssel das "Brexit-Packerl" zumachen. Verkündet wurde zwar kein Heilsversprechen, sondern "nur" der erfolgreiche Abschluss eines neuen, umfassenden Freihandelsabkommens. Aber das allein macht schon was her.

Man sollte sich durch das ruppige politische Hin und Her, die ständigen Drohungen zwischen Brüssel und London in den vergangenen Wochen und Monaten – ja sogar Jahren – nicht täuschen lassen. Es handelt sich um das bisher größte Handelsabkommen der EU in der Geschichte, mit einem gemeinsamen Volumen von rund 1000 Milliarden Euro.

Insofern muss man sogar die benötigte Verhandlungszeit relativieren. Die war nicht lang, sondern mit zehn Monaten sogar überschaubar kurz. Bei "klassischen" Investitions- und Freihandelsabkommen wie mit Kanada brauchte die EU rund zehn Jahre – und auch dann war es umstritten, kam verspätet und wurde im letzten Moment modifiziert.

Umfangreiche Rückabwicklung

Das Besondere am Abkommen zwischen der EU und Großbritannien ist, dass es ein früheres, weitgehend integriertes Mitglied der Gemeinschaft quasi rückabwickelt. Es geht dabei nicht um Annäherung und Beitritt, sondern um kontrollierte Entfernung nach dem EU-Austritt. Dank des Brexit-Vertrages vor einem Jahr gab es schon viel Vorarbeit. Allein der Kernbestand der neuen juristischen Vereinbarungen dazu umfasst 1.246 Seiten. Sie werden ab 2021 die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich sauber regeln – auch mit langen Übergangszeiten, wie beim Fischfang mit fünfeinhalb Jahren.

Das befürchtete regellose Chaos nach Ende der Übergangsfrist seit dem EU-Austritt der Briten ist nun definitiv gebannt. Am meisten Ungewissheit bleibt darüber in der Luft, wie es bei den Dienstleistungen weitergeht, und beim Austausch von Arbeitskräften, die bisher unter Personenfreizügigkeit liefen.

Nüchtern betrachtet handelt es sich daher bei aller politischen und medialen Aufregung um eine durch und durch vernünftige, technisch aufwändige Sache. Ein Erfolg nach dem Misserfolg. Nach dem Brexit gibt es nun "eine gute Scheidung". Aber auch mit einigen Wermutstropfen wie dem Umstand, dass ausgerechnet die Jungen, die Studierenden, sich schon ab 2021 nicht mehr so frei wie bisher zwischen den Universitäten auf beiden Seiten des Ärmelkanals bewegen können.

London ist aus dem Erasmusprogramm der EU ausgestiegen, einem der längsten, größten und erfolgreichsten Programme der Gemeinschaftsgeschichte, das insgesamt Millionen von jungen Wissenschaftlern ins EU-Ausland brachte. Das sollte man in den kommenden Jahren nachverhandeln. Für EU-Bürger wird es schwieriger und viel teurer, an den besten Unis der Welt in Oxford oder Cambridge zu studieren.

Die große Leistung von Michel Barnier

Das große Finale am Weihnachtstag ließ sich dennoch fast so an wie die Inszenierung einer kitschigen Happy-End-Geschichte. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einem "ausgewogenen und fairen" Deal. Der britische Premier Boris Johnson hob die Vorteile für beide Seiten hervor. Es sei "eine gigantisch große Freihandelszone" im Entstehen, und sein Land sei nun "frei", könne souveräne Entscheidungen treffen: "Eine großartige Sache", meinte Johnson.

Das große Loben auf beiden Seiten sollte wohl auch ein gutes Maß an Selbstlob befördern – verständlich nach all dem politischen Druck, der auf den Akteuren lastete. Aber das war erwartbar. Es sollte aber eigentlich den Verhandlungsteams auf beiden Seiten gelten. Ein wahrer Held ist zweifelsohne EU-Chefverhandler Michel Barnier. Die ruhige, transparente und souveräne Art, wie er die Gespräche führte, sodass nie Zweifel an der Einigkeit und Entschlossenheit von 27 EU-Regierungen aufkam, ist wohl einmalig. Der Franzose, ein liberaler Bürgerlicher, hat sich, obwohl er im Jänner 70 wird, durchaus für Höheres empfohlen. Wer weiß: Vielleicht tritt er im April 2022 als Kandidat der Konservativen gegen den angeschlagenen Emmanuel Macron um das Amt des Staatspräsidenten an.

Blick nach vorne

Aber zurück zum EU-Deal. Besonders auffällig an den Statements von von der Leyen und Johnson war ein ganz anderer Aspekt als die Freude über den Erfolg: der Blick nach vorne und das Tempo, in dem sie, noch bevor das neue Abkommen von den Regierungen der EU-27 und vom Unterhaus in London provisorisch in Kraft gesetzt wird, auf ein Zukunftsszenario umschalteten.

Von der Leyen sagte in Anspielung auf den größten Beatles-Hit, nach der "long and winding road" des Brexit sei "dieses Kapitel nun geschlossen". Man müsse umso entschlossener an die Herausforderungen denken, die das neue Jahr 2021 für die Europäer und die Briten bringen werde. Das Freihandelsabkommen erscheint aus Sicht der Kommissionschefin vor diesem Hintergrund tatsächlich fast als "Kleinigkeit", die sie längst abhaken möchte.

Vor ihr und den EU-27 stehen bereits die nächsten riesigen Problemfelder, die die vereinten Europäer lösen müssen, wenn sie in der Welt von morgen weiter eine wichtige Rolle spielen wollen. Am 20. Jänner wird Joe Biden als neuer US-Präsident angelobt. Er löst Donald Trump ab, der den transatlantischen Partnern in EU und Nato seit vier Jahren eine politische, wirtschaftliche und diplomatische Eiszeit bescherte, die ungefähr der Temperatur der Kühlschränke für Coronaimpfstoff von Pfizer/BioNTech entspricht: minus 70 Grad.

Globale Herausforderungen

In der Agenda von von der Leyen sind daher bereits die nächsten großen Verhandlungskomplexe eingetragen: mit den USA, die wegen globaler Herausforderungen wie Klimaschutz, Energie oder China für die EU in einer längeren Zukunftsperspektive noch viel wichtiger sind als es Großbritannien bisher war. Die Präsidentin hat zum Jahreswechsel insofern Fortune: Es ist ihr gelungen, den EU-Europäern zu Weihnachten neben dem Deal mit London ab dem Stefanitag auch den Coronaimpfstoff zu liefern. Bald tritt sie mit Biden auch auf der Weltbühne stärker auf.

Dazu passt auch, wie ungewöhnlich versöhnlich und konstruktiv Boris Johnson bei der Verkündigung des Handelsdeals über "unsere europäischen Freunde" sprach. Großbritannien werde wegen "seiner wirtschaftlichen, historischen, kulturellen und geografischen Bindungen" immer in Europa bleiben. Er wolle die Wirtschaft mit der EU sogar noch ausbauen, aber ohne die Fesseln der politischen Union, mit der die Briten seit dem Beitritt 1973 immer fremdelten.

Johnson zeichnete das Bild eines Großbritannien, das sich den globalen Märkten voll stellen will, das bei Forschung, Digitalisierung und Dienstleistungen Gas geben will. Das klingt, wie immer bei Johnson, etwas nach Größenwahn und Sehnsucht nach dem alten "Empire". Aber: Die Briten waren, gerade was Wettbewerbsfähigkeit und Handel betrifft, immer schon auch für die EU-Partner inspirierend, waren in den 1980er Jahren die Antreiber des Binnenmarktkonzepts.

Keine Ausrede mehr

Das alles ergibt ein Szenario, das für beide Seiten nach der Scheidung durchaus in eine konstruktive gemeinsame Zukunft führen kann. Traditionell war das Vereinte Königreich immer ein Sonderfall zwischen der EU und den USA, wollte das seit Winston Churchill auch immer sein. Das bedeutet für die verbliebenen EU-27 aber auch, dass sie sich nun überlegen müssen, wie sie sich in diesem künftigen Dreieck selber positionieren, und was das in Konkurrenz mit den neuen Großmächten China und Indien im nächsten Jahrzehnt bedeutet.

Eines scheint gewiss: Der Freihandelsvertrag zwischen EU und Großbritannien ist nicht der Abschluss von etwas, sondern viel eher der Auftakt für neue Beziehungen und Bündnisse. Mit der traditionellen Ausrede im Kreis der EU-27, dass in der gemeinschaftlichen Politik nichts weiterginge, weil die "bösen" Briten alles blockieren, ist es jetzt jedenfalls definitiv vorbei. (Thomas Mayer, 25.12.2020)