Das palastartige Ambiente des großen Konzerthaussaals – ohne Musiker fehlt ihm etwas, ohne Publikum genauso.

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In der Blüte seiner Tennisjahre hat Boris Becker den Centre Court von Wimbledon zu seinem Wohnzimmer erklärt. Er war ja ständig dort. Wenn man seit zwei Jahrzehnten von Konzerten und Opernaufführungen in Wien und der nahen Welt berichtet, werden Musikverein, Konzerthaus, Staatsoper und Co ebenfalls zu erweiterten Wohnzimmern. Die gehen einem natürlich ab, wenn monatelang alles zu ist. Was macht man in Zeiten der Dürre? Man zehrt von Erinnerungen.

Die Gedanken schweifen zurück auf den Olymp des Musikgenusses, auf einen grünen Hügel in Oberfranken. In einem scheunenartigen Backsteingebäude finden sich dort jeden Sommer unerschrockene Menschen zu halbtägigen Saunagängen zusammen und lassen sich von unterirdisch emporsteigenden Orchesterklängen zu quasireligiösen Gemeinschaftserlebnissen verführen. Eine Grenzerfahrung, gewiss. Wer sie einmal erleben durfte, möchte sie nicht mehr missen.

Aber Obacht: Auf Wagneropern muss man sich vorbereiten wie auf einen Marathon. Vorher zu viel zu trinken kann fatale Folgen haben! Auch wahlweise lungenkranke, smartphonesüchtige, gesprächsbedürftige oder hygienedefizitäre Sitznachbarn stellen bei einem Fünfstünder eine größere Belastung dar als bei einem fetzigen Einakter von Strauss.

Gut temperiert, barbrüstig dekoriert

Das hufeisenförmige Rund der Wiener Staatsoper ist eindeutig besser temperiert als das Bayreuther Festspielhaus, und auch der 50er-Jahre-Klassizismus von Erich Boltensterns Interieur bildet ein angenehmes Gegengewicht zu den vulkanischen Auswürfen aus dem Orchestergraben. Doch auch in den renommierten Konzertsälen der Stadt lässt es sich angenehm zuhören. Fühlt man sich im palastartigen Ambiente des großen Konzerthaussaals wohler oder in der Gesellschaft der barbrüstigen Balkonträgerinnen des Musikvereins? Wenn man es nur wüsste.

Zugegeben: Die Vorfreude, die der freiwillige Konzertbesucher vor einem Musikereignis empfindet, stellt sich beim Kritiker nicht immer ein. Auch kann es sich rächen, wenn man den dienstlichen Lauschangriff schlafdefizitär angeht. Und doch: Mit den ersten Tönen ist die Stimmung oft schlagartig eine andere. Müde Misanthropie kann sich bei einem fulminanten Konzert augenblicklich in kindliche Begeisterung verwandeln. Aber auch enttäuschende Konzerte sind für einen Berichterstattenden nie langweilig, weil man immer aufmerksam bleiben muss. Auch das Mittelmäßige will sorgsam detektiert werden.

Bei der Vielfalt der musikalischen Ereignisse, über die berichtet werden muss, kommt Langeweile sowieso nur selten auf. Der Bogen spannt sich vom hölzernen Alpinmusical über Sitcoms mit zeitgenössischer Geröllmusik bis zu traditionellen chinesischen Opern (Enten im Bächlein inklusive). Im Sommer friert man mehr oder weniger freudig bei nächtlichen Freiluftopernaufführungen an Seeufern oder in Steinbrüchen; in barocken Stiftsbibliotheken erlebt man Musiktheater wie seinerzeit. Was will man mehr?

Ein Konzert ist mehr als Musik

Nach Monaten der Konzerthausschließungen wird einem jedoch klar: Es ist nicht einmal so sehr die Musik, die fehlt. Die ist heute eh fast jederzeit und unbegrenzt verfügbar, auf Tonträgern, auf Streamingplattformen, im Netz. Aber ein Konzert, das ist viel mehr als nur gute Musik. Ein Konzert, das ist auch: das Getriebe bei den Garderoben im Foyer und die erregte, mit Gläserklirren durchsetzte Geräuschkulisse in den Pausen. Die vertraute Kakophonie beim gleichzeitigen Einstimmen der Orchesterinstrumente. Die Spannung, die steigt, wenn der Dirigent, wenn die Musiker die Bühne betreten. Die Aufmerksamkeit von tausend Menschen, die sich im Moment bündelt. Die Stille vor dem ersten Ton.

Wer während der Lockdown-Zeit vereinzelt Konzerte oder Opernaufführungen ohne Publikum besuchen durfte, stellte schnell fest, da fehlte etwas Wesentliches. Auch wenn auf der Bühne genau so intensiv und professionell musiziert wurde wie vor einem vollbesetzten Saal: Das Erlebnis ist ein anderes. Denn im realen Resonanzraum des Konzertsaals bildet sich während der Aufführung ein emotionaler Resonanzraum im Publikum, der Saal wird zu einer kollektiven Erregungswabe. Die erwartungsfreudigen Ohren und Augen, die fühlenden Herzen sind dem Musizierenden ein essenzielles Gegenüber, ein wesentlicher Mitspieler in einem einzigartigen Gemeinschaftserlebnis. Auch Boris Becker hätte sich auf einem leeren Centre Court wahrscheinlich nie so richtig zu Hause gefühlt. Hoffentlich darf bald wieder für alle gespielt werden. (Stefan Ender, 28.12.2020)