Boris Johnson ließ sich nach dem Deal beim Jubeln zeigen.

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EU-Chefverhandler Michel Barnier, der Brexit-Deal und ein weihnachtlich gestimmter Botschafter aus Griechenland.

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Zu den Weihnachtsfeiertagen darf es immer auch etwas Pathos sein. Und in Großbritannien sind außerdem Wortspiele meistens nicht weit. Ein ideales Rhetorikfeld ergab daher der Deal zum Brexit am Heiligen Abend für die konservative Regierung in London. Auf ein "besseres und gesünderes Verhältnis" zur EU freute sich Premier Boris Johnson, dem auch sonst Auftritte am Rand der Grandiosität nicht fremd sind. Er bekannte sich ausdrücklich zu Großbritanniens "kultureller, emotionaler, historischer, geologischer Nähe" zum Kontinent – verglich den Brexit aber auch mit Haftentlassung.

Die Änderungen in der Übersicht.

Neue Handlungsfreiheit zur Angleichung der Lebensverhältnisse auf der Insel beschwor Kabinettsbürominister Michael Gove. Und Finanzminister Rishi Sunak erklärte den fünf Jahre währenden Streit zwischen Brexiteers und EU-Freunden kurzerhand für beendet: "Im neuen Jahr gibt es nur noch Believers", meinte er: jene, "die an Großbritannien glauben". Einige Fragen blieben aber offen. Allen voran:

Frage: Was machte den Kompromiss nun eigentlich möglich?

Antwort: Ob nun als Teil einer ausgeklügelten Verhandlungs-Choreografie oder echtes Krisenzeichen – zu Beginn der vergangenen Woche verdeutlichte das persönliche Engagement von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Boris Johnson eine neue Dringlichkeit. Beide Seiten standen unter erheblichem Zeitdruck: Zum Jahresende scheidet das Königreich aus der Übergangsfrist aus, die seit dem formellen EU-Austritt Ende Jänner sämtliche Vorschriften und Kosten der Mitgliedschaft fortschrieb.

Wie chaotisch der von London vielfach beschworene "No Deal" ausgefallen wäre, führte den Briten dann noch die Grenzschließung für Güterverkehr durch Frankreich vor Augen. Offiziell wurde die Blockade in der Nacht zum Montag mit der neuen Variante des Coronavirus begründet, die auf der Insel angeblich für einen rasanten Anstieg der Infektionszahlen verantwortlich ist. Ganz unlieb dürfte dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron aber nicht gewesen sein, dass die schlimmen Zustände in Dover und dem gesamten Südosten Englands als Menetekel zukünftiger Probleme wirkten.

Frage: Worum ging es zuletzt?

Antwort: Bis zum Schluss rangen die Delegationen der beiden Chefverhandler Michel Barnier und David Frost um die Quoten für europäische und britische Fischkutter in der Nordsee und dem Ärmelkanal. Die Einigung sieht nun vor, dass die EU-Fischer schrittweise über fünfeinhalb Jahre ein Viertel des Wertes ihrer bisherigen Fänge aufgeben. Kompromisse über die beiden anderen zuletzt noch umstrittenen Themen – faire Konkurrenzbedingungen für Unternehmen und das Verfahren zur Schlichtung zukünftiger Konflikte der Vertragsparteien – hatte man schon vorher gefunden.

Frage: Was sagen Wirtschaftsvertreter und Handelsexperten?

Antwort: Ein "Seufzer der Erleichterung" kam in vielen Pressemitteilungen vor, wobei der langjährige Geschäftsführer der deutsch-britischen Handelskammer, Ulrich Hoppe, hinzufügte: "Es bleibt aber ein Seufzer, denn der Handel über den Kanal wird so oder so schwieriger und teurer." Für Unternehmen komme der Deal viel zu spät, kritisierte Tony Danker vom CBI: "Das hat für ein fesselndes Politdrama gesorgt, aber die britische Industrie bestraft." Kurz und bündig fasste der frühere Leiter des linksliberalen Thinktanks IPPR, Tom Kibasi, seine Einschätzung zusammen. Es sei diesmal so wie bei jeder anderen Handelsvereinbarung: "Der größere Partner setzt sich durch, und der kleinere gibt nach."

Frage: Und wie reagiert die britische Opposition auf den Deal?

Antwort: Für den Labour-Vorsitzenden Keir Starmer ist es eine heikle Sache. Er ist als Pro-Europäer klar positioniert, den Austritt hat er immer abgelehnt. Aber Starmer hat dennoch seit Wochen seine Zustimmung zu praktisch jeder Vereinbarung signalisiert, die der Premier aus Brüssel mitbringen würde. Den Briten sei das Risiko des chaotischen Ausscheidens ("No Deal") aus dem EU-Binnenmarkt nicht zu vermitteln, lautete die Argumentation. Mit seiner Zustimmung will Starmer zudem ein Signal senden an all jene früheren Stammwähler, die 2019 wegen Labours unklarer Brexit-Linie erstmals ihr Kreuz bei den Torys gemacht hatten. Liberaldemokraten und die Nationalisten in Schottland und Wales wollen das Vertragswerk bei der Sitzung des Unterhauses am Mittwoch ablehnen.

Frage: Und sind die Vertreter eines möglichst harten Brexits in Johnsons eigener Partei nun zufrieden?

Antwort: Die Brexit-Ultras in der konservativen Partei hatten in der Verhandlungsphase stets einen eigenen Verbindungsmann in der Regierungszentrale. Dementsprechend zuversichtlich zeigte sich Johnson, dass ihm von den Hinterbänken der Fraktion kein nennenswerter Widerstand droht. Immerhin haben die Vorsitzenden der notorischen Lobbygruppe ERG pompös eine sogenannte "Star Chamber" von Rechtsexperten einberufen; diese sollen den Deal auf "europäische Tricks" durchkämmen, wie der frühere Tory-Parteichef Iain Duncan Smith erläuterte. Ex-Tory Nigel Farage, später Chef der Brexit-Partei und nun Kämpfer gegen den Lockdown, war sich schon am Heiligen Abend sicher: "Der Krieg ist vorbei." Aber nur, was die Briten betrifft: Er hoffe weiter auf den Zusammenbruch der EU und werde auch nach dem Brexit an deren Zerstörung arbeiten, sagte er Sky News.

Frage: Wie wird das zukünftige Verhältnis zur EU nun aussehen?

Antwort: Es wird wohl von dauernden Konflikten und Verhandlungen geprägt sein, glauben Experten. Ein mit dem Deal neu geschaffener Partnerschaftsrat hat 20 Ausschüsse, die mindestens einmal im Jahr tagen. Über das Nordirland-Protokoll soll das Belfaster Regionalparlament in vier Jahren abstimmen. Ändern sich dann die Rahmenbedingungen, steht das alte Problem der inneririschen Grenze wieder auf der Tagesordnung. Und spätestens 2026 kommt es erneut zum Showdown über Fischerei. (Sebastian Borger aus London, 27.11.2020)