Europaministerin Karoline Edtstadler in ihrem Büro, wo Außenminister Alois Mock einst den EU-Beitritt Österreichs vorbereitete: "Ich bin eine Herzenseuropäerin."

Foto: Christian Fischer

Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sammelt Eulen, so wie der frühere Außenminister Alois Mock, in dessen ehemaligem Büro sie sitzt. 2021 will sie den Bürgern mehr als bisher die Vorteile der EU näherbringen. In Sachen humanitäre Aufnahme von Flüchtlingen aus Lesbos fügt sie sich der harten Linie von Kanzler und ÖVP-Chef Sebastian Kurz.

STANDARD: Zum Start der türkis-grünen Regierung vor einem Jahr sind Sie sofort zu Ihrer Amtskollegin nach Paris gefahren, um bei EU-Reformen etwas weiterzubringen. Durch Corona kam alles anders. Wie sehen Sie das Jahr 2020?

Edtstadler: Die Aspekte von damals sind nach wie vor aktuell. Wir haben das Verhältnis zu Frankreich vertieft, sehr verstärkt. Das hat seine Wurzel auch beim Terrorattentat am 2. November in Wien und in den Anschlägen vorher in Frankreich.

STANDARD: EU-Reformen sind ausgeblieben.

Edtstadler: Das Ziel, das gemeinsame Europa voranzubringen, gibt es nach wie vor. Ich hätte gehofft, dass wir schon mit der Eröffnung der Zukunftskonferenz im Mai in Dubrovnik weiterkommen. Da ist uns aber wirklich Corona dazwischengekommen. Das hat die Prioritäten umgekehrt.

STANDARD: Die Staaten haben im Frühjahr sofort mit nationalen Maßnahmen begonnen, die EU war abgemeldet. Wie sehen Sie das?

Edtstadler: Man hat zu Beginn nichts gehört, das stimmt, das habe ich als Kritik auch ausgesprochen. Man wusste allerdings zu Beginn nicht, was auf uns zukommt. Der Schock ist dann allen in die Knochen gefahren. Am 7. Februar wurde bei ECDC in Stockholm, dem Europäischen Zentrum für Prävention und Krankheitskontrolle, noch gesagt, dass die Gefahr gering bis mäßig sei, wenn man Hygienemaßnahmen ergreift.

STANDARD: Ziemlich grobe Fehleinschätzung.

Edtstadler: Kurz danach hat es dann die ersten Fälle in Innsbruck gegeben, die Züge aus Italien wurden angehalten. Man hat versucht, das irgendwie einzugrenzen, auch aus einer Hilflosigkeit heraus.

STANDARD: Warum setzt sofort immer der nationale Reflex ein – nicht gleich die Überzeugung, dass man fest zusammenstehen muss?

Edtstadler: Es war keinem klar, welche Bedeutung das hat. Wir hätten uns nicht denken können, dass es plötzlich angehaltene Lkw-Ladungen an der Grenze gibt oder Züge stundenlang aufgehalten werden. Man sollte daraus keine Anschuldigungen machen, es einfach als Faktum akzeptieren. Keiner wusste, wie man damit umgehen soll. Da ist man in nationalstaatliche Positionen zurückgefallen.

STANDARD: Warum ist das so?

Edtstadler: Weil wir eine Union von 27 Mitgliedsstaaten sind und es Zeit braucht, um gemeinsame Positionen zu finden. Das Coronavirus ist nicht gleichzeitig über alle EU-Staaten hereingebrochen. Es mussten die Staaten, die als Erstes betroffen waren, Maßnahmen setzen. Gesundheit und Sicherheit sind in erster Linie in nationaler Verantwortung.

STANDARD: Was hat man daraus gelernt?

Edtstadler: Einer der größten Erfolge ist die gemeinsame Erforschung von Impfstoffen, das Zusammenlegen von Geldern und Know-how in einem Bereich, in dem das nicht immer selbstverständlich war, bis hin zur Beschaffung. Wir können am Weltmarkt nur auftreten, wenn wir als Europa zusammenhalten, das haben wir erkannt.

STANDARD: Wir sitzen in Ihrem Büro, wo ÖVP-Außenminister Alois Mock vor 1995 den EU-Beitritt vorbereitete. Er war immer für möglichst viel EU-Integration. Fehlt Ihrer Politikergeneration diesbezüglich das Feuer?

Edtstadler: Ich empfinde das Feuer für Europa sehr stark. Ich will dieses Feuer auch bei den Bürgern entfachen. Ich bin eine Herzenseuropäerin.

STANDARD: Warum haben so viele Menschen das Gefühl, dass die Regierung Kurz, was Europa betrifft, kühl ist? Der Kanzler sieht die EU pragmatisch, engagiert sich in Brüssel nur, wenn er etwas braucht. Mehr tut Österreich nicht.

Edtstadler: Ich glaube, Sie tun da vielen unrecht. Ich habe auch das Gefühl, dass viel für das gemeinsame Europa passiert. Impfstoff, gemeinsame Beschaffung, das größte EU-Budget aller Zeiten, wir bringen auch etwas voran. Zugeben, vieles ist durch Covid-19 in den Hintergrund gerückt, so wie Migration, das Sicherheitspaket zum Beispiel, Datenschutz, Klima. Aber das kommt jetzt wieder.

STANDARD: Viele Bürger zweifeln daran.

Edtstadler: Es gibt ein Dilemma in Europa. Wenn etwas funktioniert, wird das als selbstverständlich hingenommen. Aber wenn es nicht funktioniert, dann wird laut darüber gesprochen. Die Krise jetzt sollte uns vor Augen führen, dass all das, was wir an Europa haben, sehr schnell wieder weg sein könnte. Wir brauchen dafür den Diskurs mit der Bevölkerung. Deshalb sollen die Bürger in die Zukunftskonferenz für EU-Reformen direkt eingebunden werden.

STANDARD: Kanzler Sebastian Kurz hat lange mit den Visegrád-Staaten sympathisiert. Beim EU-Budgetstreit bildete er mit den Niederlanden, Schweden und Dänemark eine neue Achse. Manche zweifeln daran, dass er ein überzeugter Europäer ist. Wo steht Österreich?

Edtstadler: Er ist ein überzeugter Europäer. Es zeigte sich im Sommer, als er erfolgreich Allianzen gebildet hat, um beim Budget zu einer Lösung zu kommen. Es gibt ein Regierungsprogramm mit einer breit ausgeführten Europapolitik. Zum Dritten habe ich sehr wohl Akzente gesetzt mit den Bürgerdialogen. Man sagt so leicht, mit EU-Themen könne man keine nationale Wahl gewinnen, das Thema Europa werde immer im Hintergrund bleiben. Genau das möchte ich aber ändern. Die Bürgerinnen und Bürger sollen in der ganzen Tragweite erkennen, was die Europäische Union ihnen bringt. Da habe ich auch die Unterstützung des Kanzlers.

STANDARD: Kurz wurde kritisiert, weil er als Teil der "frugalen Vier" auf der Budgetbremse stand.

Edtstadler: Wieso werden solche Allianzen als antieuropäisch ausgelegt? Es war immer so, dass einzelne Staaten sich zu Gruppen zusammentun. Die Visegrád-Staaten sind übrigens längst nicht mehr in allem einig. Österreich versteht sich als Brückenbauer in dem Sinn, dass wir, wenn es jemanden gibt, der nicht mitzieht, versuchen, ihn ins Boot hereinzuholen.

STANDARD: Interessen pragmatisch bündeln ist das eine, aber es gibt auch so etwas wie einen europäischen Spirit der Gründerstaaten. Beispiel Migration: Wieso fällt es Österreich so schwer, bei einer humanitären Aktion für Flüchtlinge im Kern der Union mitzutun?

Edtstadler: Österreich hat wahnsinnig viel für Flüchtlinge getan, nicht nur symbolisch, sondern auch faktisch.

STANDARD: Unbestritten. Warum ist es so undenkbar, auch nur 50 Flüchtlinge von Lesbos aufzunehmen, als Regierung Herz zu zeigen?

Edtstadler: Das Faktische wird nur oft gerne übersehen, wenn es um einen symbolischen Akt geht. Ich verstehe, dass das um Weihnachten herum ein großes Thema ist. Ich muss Ihnen auch sagen, als Frau, als Mutter tut es mir in der Seele weh, wenn ich solche Bilder sehe. Aber es geht auch darum, der griechischen Regierung zu sagen: "Ihr habt seit 2015 so und so viele Milliarden bekommen, habt Hilfsgüter in Lagern, was habt ihr vor zu tun?"

STANDARD: Wieso sagen Sie dem Kanzler am Ministerratstisch nicht einfach, dass man das endlich vom Tisch bringen soll? 50 oder 100 Flüchtlinge fallen überhaupt nicht ins Gewicht.

Edtstadler: Wäre es denn dann vom Tisch? Mir geht es darum, dass man Hilfe leistet und dass man Menschen, die in so einer Situation sind wie auf Lesbos, aber auch an vielen anderen Orten in der Welt, möglichst viel Unterstützung zukommen lässt. Bei aller Symbolik geht es aber darum anzuerkennen, was wir schon gemacht haben. (Thomas Mayer, 29.12.2020)