Israels Premier Benjamin Netanjahu.

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Es gibt kaum ein anderes Land, das in diesem Jahr von solchen Widersprüchen geprägt ist wie Israel. Die einzige Demokratie im Nahen Osten war stets stark genug, sich auch gegen zahlenmäßig überlegene Feinde zu verteidigen, und gilt als eine der eindrucksvollsten Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Israels Existenzrecht bleibt aber von mächtigen Feinden, nicht nur von den vertriebenen Palästinensern, bestritten. Nach dem Friedensschluss mit Ägypten 1979 und Jordanien 1994 erfolgte völlig überraschend erst im Sommer 2020 ein neuerlicher Durchbruch der Blockade in den Beziehungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain, gefolgt vom Sudan und von Marokko. Unabhängig von den Motiven Donald Trumps, bedeuten seine Initiativen eine Stärkung der geopolitischen Position Israels und zweifellos eine positive Erbschaft seiner Präsidentschaft. Wegen dieser Chance eines Neubeginns mit den arabischen Staaten musste Premier Benjamin Netanjahu seine im Frühjahr angekündigten umstrittenen Annexionspläne hinsichtlich der Gebiete im besetzten Westjordanland auf Eis legen.

Die tödliche Gefahr für die israelische Demokratie entspringt nicht mehr der Bedrohung von außen, sondern dem Versagen der eigenen politischen Elite und den verzweifelten Bemühungen des Regierungschefs, an der Macht zu bleiben und seine Verurteilung in einem großen Korruptionsprozess zu verhindern. Netanjahu ist der am längsten dienende Premier in der Geschichte Israels und zugleich der erste Amtierende, der wegen Korruption angeklagt worden ist für mutmaßliche Straftaten, die er während seiner Amtszeit begangen haben soll. Der 71-jährige Vorsitzende der rechten Likud-Partei führte bereits zwischen 1996 und 1999 die Regierung und dominiert seit Anfang 2009 als skrupelloser Ausnahmepolitiker die israelische Politik.

Beispielloser Absturz der Wirtschaft

Inmitten der Corona-Krise und eines beispiellosen Absturzes der Wirtschaft, mit einer Million Arbeitslosen, steht das Land vor der vierten, von Netanjahu provozierten Parlamentswahl innerhalb von knapp zwei Jahren. Es ist ihm mühelos gelungen, den ehemaligen Generalstabschef Benny Gantz vom oppositionellen Bündnis Blau-Weiß in der im Mai gebildeten Koalitionsregierung vorzuführen. Gantz hatte sein Versprechen, mit dem wegen Korruption angeklagten Netanjahu niemals in eine Regierung zu gehen, wegen der Pandemie gebrochen. Laut dem Koalitionsabkommen hätte er im nächsten November die Regierungsführung übernehmen sollen. Seine Popularität fiel von 40 Prozent im Frühjahr auf vier Prozent.

Der Ministerpräsident ohne moralische Autorität wird bei der Wahl am 23. März von rechts gefährdet. Die von seinem ehemaligen Bildungs- und Innenminister Gideon Saar gegründete Partei "Neue Hoffnung" ist laut den Umfragen dem Likud auf den Fersen. Dieser sei laut Saar zu einem Werkzeug für die persönlichen Interessen Netanjahus geworden, bei denen es auch um seinen Prozess wegen krimineller Vergehen gehe. Saar hat zwar eine saubere Weste, doch könnte eine von ihm geführte und mit zwei anderen rechtsnationalistischen Parteien gebildete Regierung die internationale Stellung Israels verdüstern. (Paul Lendvai, 29.12.2020)