Die Muslimbruderschaft sorgt in Österreich derzeit für sicherheitspolitische Diskussionen.

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Wer sind die islamistischen Muslimbrüder, welche Ideologie vertreten sie, und wie sieht ihr Netzwerk in Österreich aus? Im ersten Grundlagenpapier der Dokumentationsstelle Politischer Islam, das kürzlich veröffentlicht wurde, geht es nicht nur um den viel diskutierten Begriff in ihrem Namen – sondern wohl auch aus aktuellem Anlass um jene islamistische Gruppierung, gegen deren angebliche Mitglieder eine Razzia durchgeführt wurde. Die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Terrorismusfinanzierung sind zwei der schwerwiegenden Vorwürfe gegen die Beschuldigten.

Auch künftig wird die Dokustelle wohl einen besonderen Fokus auf die Muslimbruderschaft in Österreich legen – wird sie doch als "einer der wichtigsten Akteure" des politischen Islam definiert.

Neben einem historischen, strukturellen und ideologischen Aufriss jener geheimbündlerischen Gruppierung, für die der Islam "ein sämtliche Aspekte des Lebens durchdringendes System darstellt", bleibt die sechsseitige Abhandlung zur heimischen Szene im Wesentlichen bei Indizien und Mutmaßungen zu möglichen Verbindungen von Einzelpersonen, die auch Teil der Razzia waren. Zur "Richtigkeit" der Razzia könne allerdings "nichts gesagt werden", wird festgehalten.

Rechtliche Schritte

Eine besonders prominente Rolle im Bericht nimmt Mitautor Lorenzo Vidino, Leiter des Extremismusprogramms der George-Washington-Universität und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Dokustelle, ein. 35-mal wird auf seine Arbeiten im Text oder in Fußnoten referenziert. Eine seiner Studien, die 2017 zusammen mit der Universität Wien entstand und vom Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung sowie dem Österreichischen Integrationsfonds unterstützt wurde, stellte auch eine wesentliche Informationsquelle für die "Operation Luxor" dar.

In Österreich gebe es bisher "lediglich zwei größer angelegte wissenschaftliche Werke zu dem Thema", heißt es in dem Papier – eben die Studie von Vidino sowie eine Arbeit der beiden Wissenschafter Dunja Larise und Thomas Schmidinger aus dem Jahr 2008.

Kommt im Grundlagenpapier zur Muslimbruderschaft besonders oft vor: der Extremismusforscher Lorenzo Vidino.
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Manche Personen und Vereine werden im Bericht klar benannt: Mehrere Male kommt beispielsweise die Muslimische Jugend (MJÖ) vor, unter anderem im Zusammenhang mit ehemaligen Mitgliedern, die mit Muslimbrüdern vernetzt seien. Das könnte nun eine juristische Auseinandersetzung nach sich ziehen. Entsprechende rechtliche Schritte werden aktuell geprüft, heißt es seitens der MJÖ zum STANDARD. Die Jugendorganisation verweist auf mehrere in der Vergangenheit erfolgreich wegen dieser Unterstellungen geführte gerichtliche Auseinandersetzungen. Angesprochen darauf, dass ehemalige Mitglieder auch von der "Operation Luxor" betroffen waren, verweist die MJÖ ebenfalls auf ebenjene gerichtlich erwirkte Richtigstellungen, wie etwa gegen die FPÖ.

Diese musste sich zu einer öffentlichen Erklärung verpflichten, wonach sich der Verdacht nicht erhärtet habe, dass die MJÖ Teil eines verschachtelten Netzwerks sei, über welches sich der politische Islam organisiere. Auch mit dem Nachrichtenmagazin profil und der Gratiszeitung Heute gab es juristische Auseinandersetzungen in dem Zusammenhang, die Gegendarstellungen nach sich zogen.

Bemerkenswert ist im Lichte der Razzia vom 9. November aber noch ein anderer Punkt. Im Zwischenbericht der von der Regierung eingesetzten Untersuchungskommission, die etwaige Behördenfehler vor dem islamistischen Terroranschlag vom 2. November in der Wiener Innenstadt untersuchen soll, wurde festgehalten, dass die Vorbereitungen auf diese Razzia auch Auswirkungen auf die Observation des späteren Attentäters K. F. hatten. So heißt es darin, dass nach einer sogenannten Gefährderansprache, die nach einer höheren Risikoeinstufung von K. F., zwar vorgesehen, aber aufgrund der längst geplanten Razzia verschoben wurde.

Offene Frage Sicherheitsrisiko

Auf die Frage, ob die Muslimbruderschaft ein Sicherheitsrisiko für Österreich ist, erklärt Vidino im Bericht, dass sie hierzulande jedenfalls keine Anschläge plane. Sie mit Gruppierungen wie dem Islamischen Staat oder Al-Kaida zu vermischen, wäre daher falsch, führt er aus. Die Muslimbruderschaft sei bisher auch weder von der EU noch den Vereinigten Staaten als terroristische Organisation eingestuft worden, wird im Grundlagenpapier darüber hinaus erklärt. Im letzten Verfassungsschutzbericht kommt die Muslimbruderschaft jedenfalls nicht vor. Für die Staatsanwaltschaft Graz hingegen steht die Muslimbruderschaft laut Ermittlungsanordnung klar im Verdacht, "terroristisch" zu sein.

An sich merkt Vidino an, dass die europäischen Brüder "auch in tätlicher, vielfach finanzieller Hinsicht außerhalb Europas operierende terroristische Organisationen" unterstützen würden. Damit meint der Experte wohl etwa die palästinensische Hamas, die aus der Muslimbruderschaft hervorging und auch in den Ermittlungen im Zuge der Razzia eine wesentliche Rolle spielt. (Vanessa Gaigg, Jan Michael Marchart, 29.12.2020)