Glück der Produktion, diesfalls als Regisseur: Heiner Müller, fotografiert vor der Bühnentür des Deutschen Theaters, 1989.

Foto: imago/DRAMA-Berlin.de

Ob der Großteil seines dramatischen Werks vor den Furien des Verschwindens zu retten sein wird, steht in den Sternen. Der ostdeutsche Autor Heiner Müller (1929–1995) beharrte bis zu seinem Tod auf der Wachhaltung der linken Utopie. Die DDR, deren bornierte Verwalter ihm mit Verboten zusetzten, galt ihm noch lange nach der Wende 1990 als der – letztlich aussichtslos gebliebene – Versuch, auf deutschem Grund und Boden "ein gutes Deutschland blühen" zu lassen: "wie ein andres gutes Land".

Letztlich seien die Länder des Ostblocks nach 1945 jedoch zu "gefrorenen Kesseln" gemacht worden. Nach innen habe man die sozialistischen Staaten "kolonisiert". Und während er den Zuschauern des Westfernsehens nach 1990 bereitwillig die Welt erklärte, nuckelte Müller an seiner unvermeidlichen Zigarre. Er erklärte auf Nachfrage mit sturer Freundlichkeit, dass die Strukturen des Kapitalismus keinen Stoff mehr für Dramen hergäben. Rom (Washington) hätte mit Karthago (Moskau) endgültig sein Gegenüber, damit sein Korrektiv verloren. Der Kapitalismus reiche nunmehr ungehindert bis in den letzten Dritte-Welt-Winkel hinein.

Writer‘s Block

Weil Müller an einem "Writer’s Block" von ungeahnten Ausmaßen litt, schien er seinerseits zu Stein erstarrt. Der vielleicht einzige wirksame Nachfolger Bertolt Brechts verkörperte nebeneinander die Rollen des Theaterdirektors am Berliner Ensemble, des Kulturfunktionärs (als Akademiepräsident) und des charmanten Orakels. Durch folgenlosen Ruhm um die gesamte Wirkung gebracht: Fast wäre für Müllers Stücke, "Der Lohndrücker", "Die Umsiedlerin", "Zement" und wie sie alle betonschwer heißen, das Totenglöckchen zu läuten. Und dennoch enthält Müllers Werk, 25 Jahre nach seinem Krebstod, einen erst noch zu entschlüsselnden Gehalt.

Ein neues Bändchen mit lauter Müller-Zitaten ist als schmuckes Lexikon aufgemacht. Es nennt sich "Der amerikanische Leviathan", herausgegeben von Frank M. Raddatz. Es reicht auf 300 Seiten von "A" (wie "Amerikaerfahrung") bis "Z" (wie "Zweiter Weltkrieg"). Die USA hatte Müller erstmals 1975 bereist, und die Unermesslichkeit des Raums, die letztlich nicht zu bewirtschaftenden Ränder einer Landschaft, die sich hinterm Horizont verläuft, bescherten ihm eine Form von Epiphanie. Die Hässlichkeit der Industrielandschaften in West wie Ost ist menschengemacht. Sie enthält keinesfalls das letzte Wort zu unserer Zukunft.

Die "Landschaft" setzt sich gegen die restlose Vereinnahmung durch Profitmaximierer zur Wehr. Und so entdeckte Müller neue Zentrierungen: Er lenkte die Aufmerksamkeit weg vom werktätigen Menschen. Der brave Prolet schöpft zwar mit der Maurerkelle, hat jedoch von der Steigerung der Produktivität selbst nichts zu erwarten. Das "postdramatische" Theater Müllers besitzt hingegen neue, (noch) unsichtbare Helden.

Es sind die "Toten", für deren Gleichberechtigung Müller unermüdlich wirbt. Darüber hinaus soll das revolutionäre Subjekt mit der Landschaft verschmelzen und solcherart einen neuen Träger der Utopie erschaffen: "Mit jedem Herzschlag der Revolution wächst Fleisch zurück auf ihre Knochen (…). Der Aufstand der Toten wird der Krieg der Landschaft sein, unsre Waffen die Wälder, die Berge, die Meere, die Wüsten der Welt. Ich werde Wald sein, Berg, Meer, Wüste." ("Der Auftrag", 1979).

Jenseits der Bedeutung

Es fällt leicht, hinter der Wortgewalt eines solchen Appells den ökologischen Aspekt zu übersehen. Die Geschichte als menschengemachtes Spektakel verliert zusehends an Gewicht. Landschaft als eine dem Zugriff entzogene Kategorie konstituiert ein "Jenseits der Bedeutung". So nennt Raddatz das Müller'sche Ringen um Freiheit: Lücken sollen entstehen, Orte, auf die keine Staatsmacht der Welt mehr einen Zugriff behaupten kann. Nichts soll mehr symbolisch identifiziert werden; die koloniale Ausbeutung, bis dato Bedingung für unsere Prosperität, verliert ihren Schrecken.

Dem Kapitalismus hat Müller rechtzeitig Bescheid gesagt: "Wenn als Folge der Klimaverschiebung, ein Triumph der Technik, Nord- und Südpol schmelzen, holt der Atlantik vielleicht seine Hauptstadt heim, das Wasser den Beton, schwimmen die Haie durch die Banken." (1987) Nicht den sozialistischen Maurern von Brennöfen gehört unbedingt die Zukunft auf unseren Bühnen. Zu suchen wäre in den Weiten von Heiner Müllers Werk nach Figuren einer neuen, größeren Hoffnung: Man müsste sie aus den poetischen Geröllfeldern dieses Titanen erst neu zusammenkratzen. (Ronald Pohl, 30.12.2020)