Lukas Schretter interessiert sich für die Biografien von Kriegskindern.
Foto: Norbert Diep

Kriege, insbesondere der Zweite Weltkrieg, sind in den Geisteswissenschaften gut erforscht. Doch auch heute gibt es noch Forschungslücken: Kinder, die während des Krieges geboren wurden, stehen meist nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der europäische Ethnologe und Historiker Lukas Schretter will diese Lücke schließen. Schon in seiner Dissertation beschäftigte er sich mit sogenannten Besatzungskindern, also Nachkommen alliierter Soldaten in Österreich. "Zu den Kindern sowjetischer, französischer und amerikanischer Soldaten gab es bereits Forschungsergebnisse, doch zu Nachkommen britischer Soldaten und österreichischer Frauen gab es noch Forschungsbedarf." Die Kinder kamen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Ehen, Liebesbeziehungen, Affären, aber auch in sogenannten "Versorgungspartnerschaften" oder infolge sexueller Gewalt zur Welt.

Die Umstände der Beziehungen zwischen den leiblichen Eltern hatte dabei auch Auswirkungen darauf, wie sich die Kinder entwickeln konnten, so Schretter: "Die sogenannten Besatzungskinder hatten auch mit Stigmatisierung und Diskriminierung zu kämpfen. Häufig ging es auch um die Tabuisierung der leiblichen Väter." Die Kinder fragten sich, ob dieser alliierter Soldat war oder woher er kam. Viele dieser Besatzungskinder würden sich heute, im fortgeschrittenen Erwachsenenalter, mit ihrer Herkunft auseinandersetzen und nach ihren leiblichen Vätern oder anderen Angehörigen väterlicherseits suchen.

Biografien nachzeichnen

In einem Projekt am Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung beschäftigt sich der gebürtige Tiroler Schretter mit Kindheit im Zweiten Weltkrieg. Dabei geht es um das Lebensborn-Heim Wienerwald in Niederösterreich, das größte Entbindungsheim dieser Art. Der Verein Lebensborn wurde 1935 gegründet und war ein Instrument der nationalsozialistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik, erzählt Schretter: "Ziel war es, Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern, und die Geburtenrate von Kindern, die aus SS-Sicht wertvoll galten, zu steigern." Die Entbindungsheime wurden im gesamten Deutschen Reich eingerichtet, Frauen nach strengen Auslesekriterien ausgewählt. Viele Kinder wurden dabei unter Geheimhaltung auf die Welt gebracht. Das macht die Arbeit heute nicht leichter: Schretter startete Aufrufe, um die dort geborenen Kindern zu interviewen und so ihre Biografien nachzeichnen: "Uns interessieren die Sozialstruktur der Mütter, die biografischen Hintergründe der Väter und die Auswirkungen auf die Lebensgeschichten der Kinder."

Für seine Forschungsprojekte arbeitet Schretter mit Archivrecherchen und Interviews mit Zeitzeugen. Gespräche mit polnischen Shoah-Überlebenden, die er während eines Forschungsaufenthalts in Los Angeles führte, brachten ihn zu seinem Themenschwerpunkt. Es folgten ein Masterstudium in Amsterdam zu Holocaust- und Genozid-Studien, die Mitarbeit in der KZ-Gedenkstätte Dachau sowie das Doktorat im EU-geförderten Horizon-2020-Projekt "Children Born of War", das er im Frühjahr 2020 abschloss.

Und der Ausgleich zu diesen schweren Themen? Den findet Schretter in Kunst und Kultur oder – pandemiebedingt – in der Natur. (Katharina Kropshofer, 11.1.2021)