Elisabeth Hammer und Stephan Gremmel von der Wiener Sozialorganisation Neunerhaus schreiben in ihrem Gastbeitrag über Menschen, die keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Sie fordern eine rasche Reform ein.

Die Pandemie macht’s möglich. Ein Termin für den Covid-19-Massentest in Wien war für alle in der österreichischen Hauptstadt lebenden Personen online buchbar – auch ohne E-Card. Der Anspruch, dass das bei gesundheitlichen Problemen grundsätzlich so funktionieren müsste, fiel bisher in die Kategorie Wunschdenken. Dabei sollte genau das selbstverständlich sein. Zugang zu medizinischer Versorgung ist ein Grundrecht, das für alle Menschen gilt. So ist es in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten.

Menschen, die keinen guten Zugang zu medizinischer Versorgung finden, warten lange zu, bis sie Hilfe in Anspruch nehmen. Viele müssen dann als Notfall mit der Rettung ins Spital.
Foto: APA/Neubauer

Trotzdem gibt es in Österreich zehntausende Menschen, die keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Das betrifft etwa Menschen ohne Krankenversicherung – wie EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die prekär beschäftigt sind, Asylwerbende nach einem Bundeslandwechsel oder Menschen, die jahrelang bei ihrem Lebenspartner oder ihrer Lebenspartnerin mitversichert waren, nach einem Todesfall oder einer Scheidung. Oft bemerken Menschen erst im Rahmen einer akuten Erkrankung oder nach einem Unfall, dass sie nicht versichert sind, obwohl sie eine E-Card haben – etwa weil sie von ihrem Arbeitgeber nach einer kurzen Phase der angemeldeten Tätigkeit wieder abgemeldet wurden. Auch moderne Tagelöhner sind nur an den jeweiligen Arbeitstagen unfallversichert und haben darüber hinaus keinen Versicherungsanspruch. Perfides Detail: Sind die Eltern nicht versichert, gilt das auch für ihre Kinder.

Fehlender Schutz

Neben den formellen Hindernissen wie fehlendem Versicherungsschutz gibt es auch Menschen, die trotz gültiger E-Card nicht oder nicht adäquat versorgt werden – das liegt etwa an Sprachbarrieren oder unbehandelten psychiatrischen Erkrankungen. Oft sind auch negative Erfahrungen in der Vergangenheit oder Scham dafür verantwortlich, dass Menschen resignieren und irgendwann keine medizinische Hilfe mehr in Anspruch nehmen. Das betrifft viele obdach- oder wohnungslose Menschen.

Ist es vertretbar, medizinische Versorgung nur dort allen Menschen zugänglich zu machen, wo es um ansteckende Erkrankungen und somit den Schutz der gesamten Bevölkerung vor einer Infektion geht? Und wie müsste das System gestaltet sein, um mit seinen Angeboten möglichst viele Menschen zu erreichen und in guter Qualität zu versorgen? Eine Modernisierung der medizinischen Versorgung im niedergelassenen Bereich ist ohnehin geplant: Bis Ende 2021 sollen in Österreich 75 Primärversorgungseinheiten entstehen. Diese Reorganisation eines historisch gewachsenen Feldes bietet die Chance, Zugangsbarrieren abzubauen und einen Schritt in Richtung mehr Chancengerechtigkeit zu machen. Dafür braucht es zunächst den entsprechenden politischen Willen: Wir müssen alle Menschen, die in Österreich leben, mit unseren medizinischen Angeboten erreichen wollen, nicht nur während einer Pandemie.

Was benötigt wird

Der Wille allein kann aber keine Berge versetzen. Die Zusammensetzung der interdisziplinären Teams in den entstehenden Primärversorgungseinheiten muss sich konkret an dem orientieren, was die Menschen brauchen: Neben Pflege und anderen klassischen Gesundheitsberufen ist das oft auch sozialarbeiterische Beratung. Denn gesundheitliche und sozioökonomische Probleme stehen einander oft im Weg und verhindern so eine nachhaltige Verbesserung der Gesamtsituation. Ein Beispiel: Lebt ein Asthma-Patient in einer schimmligen Wohnung, wird sich sein Zustand erst verbessern, wenn er auszieht, egal wie gut die medizinische Behandlung ist.

Wer soll das alles bezahlen, denkt der eine oder die andere vielleicht jetzt. Die Antwort lautet: Das jetzige System kommt uns teurer. Denn Personen, die nicht gut Zugang zu medizinischer Versorgung finden, warten sehr lange, bis sie Hilfe in Anspruch nehmen. Das führt oft dazu, dass sie als Notfall mit der Rettung in eine Spitalsambulanz gebracht werden.

Eine rasche Entlassung nach einer meist nur symptomatischen Behandlung bringt aber zumeist keine langfristige Besserung des Gesundheitszustands. Oft entwickelt sich eine Abwärtsspirale aus kostenintensiven Rettungstransporten, aufwendiger Akutdiagnostik und -therapie und einem sich immer weiter verschlechternden Gesundheitszustand.

Bei chronischem Bluthochdruck kommt es beispielsweise immer wieder zu Entgleisungen mit plötzlich auftretenden Beschwerden. Wird diese Erkrankung, die häufig mit anderen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen einhergeht, nicht dauerhaft behandelt, kann das im Verlauf zu Herzinfarkt und/oder Schlaganfall führen, was wiederum eine teure Notfallbehandlung nötig macht.

Abwärtsspirale durchbrechen

Angebote für spezielle Zielgruppen, wie zum Beispiel wohnungs- und obdachlose Menschen sind wichtig und richtig. Aber die strukturelle Lösung liegt woanders: Nur eine für alle Menschen – mit oder ohne E-Card – durchlässige Primärversorgung mit Sozialarbeit an Bord kann Abwärtsspiralen durchbrechen und im besten Fall von vornherein verhindern.

Zumal es bald noch mehr Menschen ohne Zugang zu medizinischer Versorgung geben könnte: In den fünf Jahren nach der Finanzkrise stieg die Zahl der wohnungslosen Menschen in Österreich um ein Drittel an. Expertinnen und Experten befürchten, dass der Effekt von Corona vergleichbar oder noch verheerender sein könnte – umso besser, wenn wir jetzt beginnen, uns als Gesellschaft darauf vorzubereiten. Auch und gerade im Gesundheitsbereich. (Elisabeth Hammer, Stephan Gremmel, 30.12.2020)