Stefan Lehne, Gastwissenschafter bei Carnegie Europe, analysiert in seinem Gastbeitrag den britischen EU-Austritt und das entsprechende Abkommen.

Schließlich hat sich doch noch die Vernunft durchgesetzt. London und die EU haben mit knapper Not vermieden, die gravierenden negativen Folgen des britischen EU-Austritts durch die Einführung von Zöllen und Kontingenten noch zu vergrößern. Trotz der in letzter Minute erreichten Einigung handelt es sich um einen ausgesprochen harten Brexit. Dass man nicht mehr erreichen konnte und dass es so schwerfiel, auch dieses bescheidene Abkommen zu vereinbaren, lag am Zusammenprall zweier fundamental konträrer Zugänge zur Bewältigung der Globalisierung.

Daumen nach oben? Oder eigentlich besser nicht? Auch wenn man getrennte Wege geht, die Europäische Union und Großbritannien werden weiter miteinander verbunden bleiben.
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"Take back control", das war 2016 der Kampfruf der Befürworter des Austritts. Befreit von den Fesseln des EU-Rechts und des mühsamen Interessenausgleichs in Brüssel würde ein wieder souveränes Großbritannien im globalen Wettbewerb flexibler und erfolgreicher agieren können. Nationale Gesetzgebung könne rascher auf veränderte Umstände reagieren als die komplexen EU- Verfahren. Handelsverträge mit nichteuropäischen Partnern würden neue Märkte öffnen und die Dynamik der britischen Wirtschaft ankurbeln.

Enorme Marktmacht

Die EU dagegen setzt nicht auf Tempo und Flexibilität, sondern auf Größe und Gewicht. Ihr Einfluss beruht auf der Kontrolle des Zugangs zum wichtigsten Binnenmarkt der Welt. Dies verschafft enorme Marktmacht und macht die EU zum weltweit wichtigsten Exporteur von Normen und Standards. Wer am Binnenmarkt Anteil haben will, muss sich an EU-Recht halten. Dies ist die Grundregel des Erfolgskonzepts der EU und gilt gerade auch für ein ehemaliges Mitgliedsland. Dieser Gegensatz zwischen dem britischen Wunsch nach maximaler Freiheit und dem Insistieren der EU auf maximaler Einbindung machte es so schwierig, zu einem Ergebnis zu kommen.

Ideen für einen "weichen Brexit" wie der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum oder der von Premierministerin Theresa May vorgelegte "Chequers-Plan", der auf die britische Teilnahme zumindest am Warenbinnenmarkt abzielte, mussten scheitern, obwohl sie den wirtschaftlichen Schaden begrenzt hätten. Für kleine Staaten wie die Schweiz und Norwegen sind die Vorteile der Teilnahme am Binnenmarkt ein Stück Souveränität wert. Für die britischen Konservativen dagegen war die Unterordnung unter "fremdes" Recht und "fremde" Richter völlig unverträglich mit dem Brexit-Kernanliegen des "taking back control".

Hochsensibles Problem

Schließlich blieb nur das Modell des Kanada-EU-Freihandelsabkommens übrig. Angesichts der Bedeutung und geografischen Nähe Großbritanniens bestand die EU allerdings auf stärkeren Absicherungen, um zu verhindern, dass der Wettbewerb durch Senkung von sozialen und ökologischen Standards oder durch massive Staatsbeihilfen untergraben werden kann. Um den Mechanismus zum Ausgleich eines möglichen britischen Abweichens von EU-Normen und um die Neuaufteilung der Fischereirechte – ein wirtschaftlich marginales, politisch aber hochsensibles Problem – wurde bis zuletzt gerungen.

Das nun vorliegende Abkommen ist kaum mehr als eine schwache Notlösung. Es bezieht sich primär auf den Warenverkehr und lässt damit den Dienstleistungssektor, der zirka 80 Prozent der britischen Wirtschaft ausmacht, ungeregelt. Aufgrund des britischen Ausscheiden aus der Zollunion werden sich Unternehmen in Zukunft mit bürokratischen Hürden und Grenzkontrollen herumschlagen müssen, die den wirtschaftlichen Austausch hemmen und vor allem in der Anfangsphase massive Störungen des grenzüberschreitenden Verkehrs mit sich bringen werden. Nach Schätzungen der britischen Regierung wird sich das Wachstum in Großbritannien mit diesem Vertrag um zirka vier Prozent verlangsamen. Ohne Abkommen wäre es zu einem Rückgang um 6,1 Prozent gekommen. Auch auf EU-Seite ist mit empfindlichen, wenn auch geringeren Nachteilen zu rechnen.

Bitterer Beigeschmack

Bisher spricht wenig dafür, dass die Versprechungen der "Brexiteers" einer rosigen Zukunft des "Global Britain" in Erfüllung gehen werden. Potente Handelspartner warten ab, wie sich das Verhältnis zwischen London und Brüssel entwickelt. Viele Jobs auf dem Finanzsektor wandern nach Irland und auf den Kontinent ab. Als Zielort von Investitionen hat Großbritannien ebenso an Attraktivität eingebüßt wie an außenpolitischem Gewicht. Die durch den Brexit beflügelten Unabhängigkeitsbestrebungen in Schottland und die neuen Sonderarrangements für Nordirland stellen sogar das Überleben des Vereinigten Königreichs infrage. Die an sich erfreuliche Tatsache, dass mittlerweile 60 Prozent der Briten eine positive Meinung von der EU haben, hat einen bitteren Beigeschmack. Sie zeigt, dass der populistische Unfall im Sommer 2016 vermeidbar gewesen wäre.

Freilich, die EU und Großbritannien bleiben Nachbarn und durch intensiven Austausch miteinander verbunden. Mittelfristig wird man wieder zu ambitionierteren Formen der Zusammenarbeit finden. In tausenden Jahren schwankten Großbritanniens Beziehungen zum Kontinent ständig zwischen Engagement und Rückzug hinter den Kanal. Vor diesem Hintergrund markiert der 31. Dezember nur das Ende einer relativ kurzen Etappe besonders intensiver Teilnahme an der europäischen Politik. Man darf auf das nächste Kapitel gespannt sein. (Stefan Lehne, 30.12.2020)