Speaker Lindsay Hoyle hat wegen der Pandemie um möglichst spärliche Anwesenheit gebeten.

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Labour-Chef Keir Starmer will für den Deal mit der EU stimmen, nicht alle Parteimitglieder werden ihm folgen.

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Rein rechnerisch müssten 40 Tories ihrem Parteichef die Gefolgschaft verweigern und mit der komplett geschlossenen Opposition stimmen, um die Mehrheit zu kippen.

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Nachdem am Dienstag die 27 EU-Staaten dem Start des Brexit-Handelspakts mit Großbritannien zum 1. Jänner offiziell zugestimmt haben, ist am Mittwoch London am Zug: Das Unterhaus kommt zum 30. Mal in den vergangenen 70 Jahren in den Parlamentsferien zu einer Sondersitzung zusammen. Der von Premier Boris Johnson mit der EU ausgehandelte Handelsvertrag wird rechtzeitig alle Hürden überwinden, dafür sorgt die klare Mehrheit der konservativen Regierung. Freunde einer engeren Zusammenarbeit mit dem Kontinent, vor allem in der oppositionellen Labour-Fraktion, stehen aber vor einer schwierigen Entscheidung: zustimmen um des lieben Friedens willen – oder doch ablehnen als Zeichen dafür, dass man Johnsons Vorgehen missbilligt?

Um 9.30 Uhr hat Speaker Lindsay Hoyle das Hohe Haus zur Ordnung gerufen. Ausdrücklich hatte der Parlamentspräsident in Corona-Zeiten um möglichst spärliche Anwesenheit gebeten, virtuelle und wirklich Teilnehmende sollen gleichberechtigt zu Wort kommen. Die Volksvertreter haben gerade einmal fünf Stunden Zeit, um das 1.246 Seiten lange Vertragswerk mitsamt seiner mehrere Hundert Seiten starken Anhänge zu debattieren. Ab Mittag tritt auch das Oberhaus zusammen, um einen eigenen Blick auf die Regierungsvorlage zu werfen. Geht alles nach Plan, kann die Queen noch am Mittwoch, spätestens am Donnerstag das nötige Plazet erteilen.

Ursula von der Leyen und Charles Michel zeigen ihre Unterschriften.

In Brüssel sind die Unterschriften bereits unter dem Deal. Ratspräsident Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen haben das Abkommen am Mittwochmorgen im Namen der EU unterzeichnet. "Die Übereinkunft, die wir heute unterschrieben haben, ist das Ergebnis von monatelangen intensiven Verhandlungen, in denen die Europäische Union unvergleichbare Einheit gezeigt hat", sagte Michel. "Es ist ein faires und ausgeglichenes Übereinkommen, das die grundlegenden Interessen der EU vollkommen unterstützt und für Stabilität und Sicherheit für Bürger und Unternehmen sorgt." Der Deal wird noch von den Abgeordneten des EU-Parlaments und im Rat geprüft werden.

Verbindungsmann zu den Fanatikern

Doch davor ist noch Großbritannien am Zug: Über 364 Mitglieder verfügt die konservative Unterhausfraktion; rein rechnerisch müssten also 40 Tories ihrem Parteichef die Gefolgschaft verweigern und mit der komplett geschlossenen Opposition stimmen, um die Mehrheit zu kippen. Johnsons Vorgänger David Cameron und Theresa May wurden immer wieder von Rebellionen der rund drei Dutzend harten Brexit-Ultras gequält. Um deren Lobby-Gruppe ERG informiert und bei Laune zu halten, ernannte der Premierminister eigens einen Verbindungsmann.

Am Dienstag wollte aber sogar die pompös angekündigt sogenannte "Star Chamber" von Rechtsexperten ihre Zustimmung zu dem Abkommen erteilen, das ohnehin alle Wünsche der Brexiteers nach dem härtestmöglichen Bruch jenseits des chaotischen Austritts ("No Deal") erfüllt. Der Vorsitzende des Gremiums, benannt nach dem notorischen Geheimgericht englischer Monarchen des 15. und 16. Jahrhunderts, führt seit 2010 den Vorsitz des EU-Prüfausschusses im Unterhaus. Dass William Cash (80) diesen Posten übernehmen durfte, war wie der Austritt der Tories aus der Brüsseler EVP-Fraktion im Jahr zuvor ein damals weithin übersehenes Menetekel für die Entwicklung der Partei von konservativem Pragmatismus zu englischem Nationalismus.

Kein Ja aus den Regionen

Ebenso vorhersehbar wie die Geschlossenheit der Tories ist die Ablehnung der proeuropäischen Liberaldemokraten sowie der Nationalistenparteien von Schottland und Wales. Auch sämtliche Abgeordnete aus Nordirland wollen Johnsons Deal ihre Zustimmung verweigern. Das kommt im Fall der proeuropäischen SDLP und Alliance wenig überraschend; dass sich auch die Brexit-Befürworter der protestantischen DUP "aus prinzipiellen Gründen" gegen das Vertragswerk positionieren, hat mit deren Bedenken gegenüber dem Nordirland-Protokoll zu tun. Dieses regelt den Handel zwischen dem Nordosten der Grünen Insel und Großbritannien, damit die innerirische Landgrenze offen bleiben kann.

Ein schwieriger Tag steht den Proeuropäern bei Labour bevor. Parteichef Keir Starmer hat seiner Fraktion die Zustimmung verordnet: Selbst Johnsons "dünner" Deal sei besser als weitere Unsicherheit für die Unternehmen auf beiden Seiten. Mit seiner Zustimmung will der Oppositionsführer zudem ein Signal senden an all jene früheren Stammwähler, die voriges Jahr wegen Labours unklarer Brexit-Linie erstmals ihr Kreuz bei den Tories gemacht hatten.

"Ein Akt gegen die Weltoffenheit"

Eine kleine Gruppe von Unentwegten will sich damit nicht abfinden. Ihre Partei gehe der Regierung "in die Falle, wenn wir diesem schlimmen Abkommen zustimmen", argumentieren Parteilinke wie Clive Lewis und John McDonnell einträchtig mit Ex-Ministern wie Andrew Adonis und Ben Bradshaw vom rechten Flügel. Zu den Rebellen zählen auch mehrere Ex-Europaabgeordnete wie Mary Honeyball, Glyn Ford und Richard Corbett. Mindestens zehn Prozent der 200 Mitglieder starken Unterhausfraktion werde sich der Linie des Parteichefs verweigern, glaubt die Londoner Abgeordnete Rupa Huq. Die Skeptiker fürchten "einen Akt des Vandalismus gegen unseren Wohlstand, unsere Rechte und unsere Weltoffenheit".

In der Öffentlichkeit finden die Proeuropäer kaum Gehör, der Brexit gilt als abgehakt. Das Land starrt gebannt auf immer neue Horrormeldungen von der Front gegen Sars-CoV-2. Am Montag meldete das Gesundheitsministerium den neuen Rekord von 41.385 Neuinfektionen binnen 24 Stunden, am Dienstag war von einem neuerlichen landesweiten Lockdown die Rede, Schulen und Universitäten dürften weit über die Weihnachtsferien hinaus geschlossen bleiben. (Sebastian Borger aus London, 30.12.2020)