Blicke auf eine europäisch-jüdische Familiengeschichte mit Hohenemser Wurzeln: Präparierter Huf des Pferdes von Guido Brunner (1893-1916).

Foto: Dietmar Walser

Louise Weiss war Mitte 20 und Europa lag in den Trümmern des Ersten Weltkrieges, als die Tochter einer Elsasser Jüdin 1918 in Paris die Wochenzeitung L’Europe nouvelle ("Das neue Europa") gründete, die der Vereinigung des Kontinents das Wort schrieb.

Gut sechzig Jahre später erinnerte die Publizistin, Frauenrechtlerin und Europa-Politikerin Weiss daran, dass sie unter dem vereinten Europa nicht nur eine wirtschaftliche Union, sondern eine Solidargemeinschaft verstand.

"Die europäischen Institutionen", sagte sie in ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, "haben europäische Zuckerrüben, Butter, Käse, Wein, Kälber, ja sogar europäische Schweine zustande gebracht, aber keinen europäischen Menschen." Das war 1979.

Weitere vierzig Jahre später erlebt Europa den Brexit, führt die gescheiterte europäische Flüchtlingspolitik zu einer humanitären Katastrophe nicht etwa vor den Toren, nein, auf dem Boden der EU, werden nationale Interessen gegen europäische Lösungen ausgespielt.

Eine Idee aus Krisen

Mit Die ersten Europäer hat das Jüdische Museum Hohenems 2014 die Frage aufgeworfen, inwieweit die Habsburger Juden mit ihren transnationalen Netzwerken als Mittler zwischen den Kulturen fungierten und den Grundstein für ein europäisches Bewusstsein legten.

Nun folgen Die letzten Europäer: Der Titel ist ambivalent, suggeriert er doch das Scheitern des Projekts Europa, gleichzeitig stemmt die Schau dagegen. Und zwar mit jüdischen Perspektiven auf die Krisen einer Idee, die ihrerseits aus Krisen heraus entstanden ist – allen voran die versuchte Vernichtung der europäischen Juden im 20. Jahrhundert.

Raphael Lemkin hatte zunächst allerdings den Völkermord an den Armeniern vor Augen, als er in den 1920er Jahren begann, sich mit Völkerrecht zu beschäftigen. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die meisten Familienmitglieder Lemkins als Juden ermordet. 1948 wurde Genozid nach der von Lemkin übernommenen Definition in das Völkerstrafrecht aufgenommen.

Die hier versammelten Stimmen sind jedoch alles andere als homogen. Das beginnt bei den Mitgliedern der im 19. Jahrhundert von Hohenems nach Triest ausgewanderten Familie Brunner, streift die Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre oder auch den Fall Pierre Lellouche:

Im August 2010 verteidigte der damalige Europaminister Frankreichs, selbst aus einer jüdischen Familie stammend, die gewaltsame Abschiebung von hunderten Roma und warf zugleich der Europäischen Kommission vor, die Augen vor dem "Antiziganismus" zu verschließen.

Nicht Geschichtsstunde, sondern Gegenwart

Die Hohenemser Ausstellung, und das ist eine ihrer großartigsten Leistungen, versteht sich nicht als Geschichtsstunde, sondern beschäftigt sich im Internet dezidiert mit der europäischen Gegenwart.

In der das Schlagwort vom "christlich-jüdischen Abendland" zu einem Kampfbegriff der Rechten geworden ist: 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird ausgerechnet das Judentum zur Abgrenzung von einem neuen Feindbild vereinnahmt: der islamischen Kultur. (Ivona Jelčić, 30.12.2020)