Das Cover der deutschsprachigen Ausgabe.
Foto: Heyne

[Anmerkung: Diese Rezension ist ursprünglich im Jahr 2010 erschienen. Der Roman wurde später übersetzt und unter dem Titel "Biokrieg" auch auf Deutsch veröffentlicht.]

Glück gehabt! Jedes Jahr picke ich mir aus den Nominierungslisten für "Hugo" und "Nebula" ein, zwei thematisch vielversprechend klingende Romane raus – diesmal hab ich endlich den Gewinner erwischt. Und Paolo Bacigalupi, ein junger Autor aus Colorado, hat völlig zu Recht den heurigen "Nebula" abgeräumt. Für den "Hugo" ist er immerhin schon mal nominiert – der September wird zeigen, ob ihm gleich mit seinem Debütroman der Doppelschlag gelingt.

Im klaren Stil sowie dem Entwurf eines gewaltigen Panoramas, vor dem glaubwürdige Charaktere agieren, ähnelt "The Windup Girl" den Romanen David Maruseks, mit denen es auch den ungefähren Zeitraum – das späte 22. Jahrhundert – teilt. Außerdem hat auch Bacigalupi seine Welt zuerst in Kurzgeschichten entworfen ("The Calorie Man", "Yellow Card Man"), ehe er sich ans lange Format herantraute. Das Panorama selbst ist jedoch von komplett anderer Art – und wesentlich pessimistischer. Schon nach wenigen Seiten beginnt man zu ahnen, dass das alles selbst im allergünstigsten Fall höchstens auf ein grimmiges Ende hinauslaufen kann.

Thailand als gallisches Dorf der Zukunft

Schauplatz des Romans ist das Königreich Thailand, einer der wenigen Flecken auf der Welt, die dem europäischen Kolonialismus erfolgreich getrotzt haben. Und auch jetzt hält Thailand an seinem Status als Insel der Autonomie fest, während draußen gleich mehrere Ozeane ansteigen: Einer aus Wasser, Produkt einer klimagewandelten Welt, dem Küstenstädte wie New York oder Mumbai längst zum Opfer gefallen sind. Einer aus Geld, das Machtinstrument US-amerikanischer und chinesischer Gentechnik-Konzerne, die die globale Contraction nach dem Ende des Öl-Zeitalters überdauert haben und nun die Globalisierung wieder vorantreiben: Die alte Expansion (so der historische Begriff für unser Zeitalter) erlebt eine Renaissance. Und schließlich ein dritter Ozean aus biologischen Gefahren, ausgebrütet in den Labors ebendieser Konzerne.

Bioinvasives Ungeziefer und für den Menschen tödliche Pflanzenkrankheiten wie der blister rust haben die Biosphäre schwerst in Mitleidenschaft gezogen, vor allem aber jede herkömmliche Nahrungsmittelproduktion zum Erliegen gebracht. Es bleibt offen, ob die Gentech-Konzerne, die sogenannten calorie companies, diese Seuchen absichtlich in Umlauf gebracht haben. Klar ist nur, dass diese völlig außer Kontrolle geraten sind. Und dass die calorie companies immer noch ihren Nutzen daraus ziehen. In einer Quarantänezone vor Bangkok lauern die Dependancen von AgriGen, PurCal und Co darauf, dass Thailand in eine Hungersnot abgleitet, um sich mit ihren sterilen Getreidelieferungen einen weiteren Markt zu unterwerfen.

Die Akteure

Anderson Lake ist ein Vertreter AgriGens, ein calorie man. Zum Schein betreibt er eine kleine Fabrik in Bangkok, in Wahrheit aber versucht er ein verschwundenes Gentechnik-Genie und – wichtiger noch – jene Samenbank aufzuspüren, die Thailand die Rückzüchtung ausgerotteter Pflanzen wie Tomaten und Tabak ermöglichte und ihm so bislang die Unabhängigkeit garantiert. "Every organism needs a predator", stellt ihm ein Kollege ein nüchternes Charakterzeugnis aus – doch obwohl Lake eigentlich jemand sein sollte, der an den Strippen zieht, wird ihm das Geschehen zunehmend aus den Händen gleiten.

Agieren statt reagieren bis zum Schluss heißt es hingegen für Lakes Assistenten Hock Seng, auch wenn der alte Chinese in allem, was er tut, von den Dämonen der Vergangenheit getrieben wird. Ein paar Jahre zuvor war er noch ein reicher Geschäftsmann in Malaya und entkam nur knapp dem Genozid durch islamische Fundamentalisten. Jetzt lebt er, aus ständiger Furcht paranoid geworden, als yellow card man im thailändischen Exil und versucht sich eine neue Existenz aufzubauen – keine leichte Aufgabe in einem Land, in dem das Umweltministerium für bioinvasive Kreaturen aller Art zuständig ist. Also auch für Flüchtlinge. Im Grunde ein betrügerischer Opportunist, wird Hock Seng durch Bacigalupis menschliche Zeichnung doch irgendwie zum Sympathieträger.

Machtduell

Denn klare Grenzziehungen zwischen richtig und falsch sind hier sowieso weit und breit keine zu finden. Besonders deutlich wird dies am Umweltministerium selbst. Mit seinen heroischen Einsatzkräften – den white shirts – stellte es einst Thailands Rettung vor dem globalen Öko-Kollaps dar. Jetzt ist es von Korruption durchsetzt, die white shirts werden als willkürlich agierende Schlägertruppe verachtet. Nur Jaidee, ein ehemaliger Muay Thai-Kämpfer und als Tiger of Bangkok immer noch Held des Volkes, hält am alten Idealismus fest, wenn er mit seiner Untergebenen Kanya in den Öko-Kampfeinsatz zieht; auch seine Methoden sind aber nicht immer astrein.

Damit ist der Boden für ein Machtduell zwischen Umwelt- und Handelsministerium bereitet: Ein nicht von ungefähr allegorisch wirkender Kampf zwischen Trade und Environment, der schließlich in einen Bürgerkrieg mündet. "The Windup Girl" ist im Präsens geschrieben – die schockierend plötzlichen Explosionen von Gewalt und die unübersichtliche Lage, durch die sich die Romanfiguren kämpfen müssen, wirken damit noch unmittelbarer.

Das künstliche Mädchen

Bleibt als letzte Hauptfigur noch das "Windup Girl" selbst: Emiko, ein künstlich gezüchteter Mensch, von seinem japanischen Besitzer bei der Abreise aus Thailand einfach stehen gelassen und hier als seelenloses Geschöpf verabscheut. Um irgendwie zu überleben, muss Emiko sich in einem Sex-Club regelmäßig vergewaltigen lassen – ohne den Schutz eines Patrons würde sie sofort als Biomüll zerschreddert.

Wie alle Hauptfiguren hat auch Emiko sehnsüchtig ein Ziel vor Augen. Zwei sogar, und beide entsetzlich unerreichbar: Sie träumt davon, dass irgendein barmherziger Bodhisattva im Himmel die künstlichen New People aus ihrer "falschen" Existenz in den großen Zyklus von Sterben und Wiedergeborenwerden schmuggelt, durch den sich alle "echten" Lebewesen bewegen. Und sie hört ein Gerücht von einem Dorf im Norden, in dem andere ihrer Art leben – ohne Besitzer und damit ohne sich dem genetisch verankerten Gehorsamszwang beugen zu müssen.

Roman des Jahres

"The Windup Girl" ist sowohl menschlich als auch stilistisch beeindruckend. Darüber hinaus entwirft Bacigalupi in unglaublichem Detailreichtum eine Welt, die alleine schon deshalb überzeugt, weil sie auch nach dem Kollaps der ölbasierten Wirtschaft nicht auf einen vormodernen Wissensstand zurückgefallen ist. HighTech/LowEnergy lautet ihr Fundament. Die am häufigsten genutzte Energiequelle beispielsweise sind mikrotechnologisch optimierte Federn, die vor dem Gebrauch per Muskelkraft aufgezogen werden müssen – sei es von gentechnisch auf Übergröße gezüchteten Elefanten, sei es von Menschen. Oberste Devise ist die maximal erzielbare Umsetzung von Kalorien in Joule, ein anderes Maß existiert nicht mehr.

Durch den Trick, einen Zyklus von Expansion – Contraction – Expansion einzuführen, lässt Bacigalupi seine Epoche überdies unmittelbar an die Gegenwart anschließen, denn der Gentechnik-Kolonialismus in der Landwirtschaft ist längst angelaufen. Und wenn das im Roman entworfene Szenario manchmal auch unsagbar deprimierend wirken mag – irgendeine Resthoffnung gibt es immer; manchmal trägt sie nur ein unerwartetes Gesicht. "The Windup Girl" ist ohne Frage einer der besten Romane des Jahres.