Nach 37 Jahren hängt Norbert Gerstberger den Richtertalar an den Nagel. Der dienstälteste Richter des 1929 gegründeten Jugendgerichtshofs Wien würde für die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen der Richterschaft die Hand ins Feuer legen.

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Wien – Norbert Gerstberger war der "letzte" Jugendrichter, der zuvor noch am Wiener Jugendgerichtshof tätig war. Als der von der FPÖ nominierte Justizminister Dieter Böhmdorfer diesen im Jahr 2003 auflöste, sei für Gerstberger "in gewisser Weise eine Welt zusammengebrochen". Nach dem Wechsel in den Ruhestand verrät er im STANDARD-Gespräch, was sich in der Jugendkriminalität im Lauf der Jahre geändert hat, warum er gegen verhüllte Gesichter vor Gericht ist und welche Rolle die Politik im Justizalltag spielt.

STANDARD: Vor 155 Jahren hat Wilhelm Busch geschrieben: Ach was muss man oft von bösen Buben hören oder lesen. Können Sie diesen Stoßseufzer teilen?

Gerstberger: Ich warne allerdings davor, ich glaube, es hat keine Generation gegeben, wo nicht die Befürchtung geäußert wurde, dass die Jugend schlechter wird als das, was davor war. Jugendkriminalität ist meiner Meinung nach in den meisten Fällen ein vorübergehendes Phänomen in der Biografie eines Menschen. Aufgabe des Jugendgerichts soll es nicht sein, den völlig aus der Bahn zu werfen.

STANDARD: Sie wurden 1983 Jugendrichter, was hat sich Ihrer Wahrnehmung nach in diesen knapp 40 Jahren an den Formen der Kriminalität geändert?

Gerstberger: Im Zeitraum 1983 bis 1989, also bevor der Eiserne Vorhang gefallen ist, war das im Rückblick eigentlich eine sehr harmlose Jugendkriminalität. Man hat damals noch mit Kanonen auf Spatzen geschossen – es gab die Qualifikation des "Gesellschaftsdiebstahls". Wenn zwei Mädchen mit 16 einen Lidschatten geklaut haben, standen sie vor einem Schöffengericht.

STANDARD: Wie hat sich die Wende ausgewirkt?

Gerstberger: Da gab es natürlich schon eine Zäsur. Es kam eine ganze Welle an Kleinkriminalität aus den damaligen Oststaaten. Und dann hat es gar nicht mehr so lange gedauert, bis auch die Drogenkriminalität im Straßenbild sichtbar wurde. Der damalige Bürgermeister Helmut Zilk hat in den 90er-Jahren auch einen Kampf gegen Sprayer geführt – da wurden Grafittisprayer verhaftet. Das ist wirklich hochgespielt worden. Aber als Richter sollten wir uns nicht in Stimmungsmache einspannen lassen.

STANDARD: Sie haben 2017 auch jene drei Jugendlichen verurteilt, die eine junge Frau auf einem WC am Praterstern vergewaltigt haben. Hat es solche Fälle früher auch schon gegeben?

Gerstberger: Na ja, es war halt ein besonders medienwirksamer Fall. Aber ich kann mich auch an die Zeit beim Jugendgerichtshof erinnern, da gab es einen Prozess, wo eine Gruppe junger Männer in einem abgestellten Eisenbahnwagon eine Freu stundenlang vergewaltigt haben. Das ist jetzt kein spezifisches Phänomen der vergangenen Jahre. Ich habe auch das Gefühl, dass der Jugendgerichtshof nicht so sehr im Fokus der Medien stand wie nun das Landesgericht.

STANDARD: Ein Aspekt hat sich verändert – der technische Fortschritt.

Gerstberger: Ja, durch Handy und Internet gibt es völlig neue Formen der Kriminalität. Das "Happy Slapping" oder auch im Sexualbereich – die ganzen Anbahnungen, die über das Internet erfolgen. Oder, ganz schlimme Geschichten, dass Minderjährige via Internet verführt wurden, sich auszuziehen oder zu onanieren. Wo sich Burschen als Mädchen ausgegeben und das aufgenommen haben, um die Opfer zu erpressen. Das sind Dinge, die geeignet sind, Leute in den Selbstmord zu treiben.

STANDARD: Im Rückblick – was sind die drei Prozesse, die Ihnen am meisten in Erinnerung geblieben sind?

Gerstberger: Natürlich der erste Terrorprozess (gegen Mohamed M. und seine Lebensgefährtin im Jahr 2008, Anm.) mit dem Ausschluss der vollverschleierten Angeklagten. Ich halte es für nicht in Ordnung, wenn man dem Gericht sein Gesicht nicht zeigt, aus welchen Gründen auch immer. Ich habe das als ungebührliches Benehmen qualifiziert und mich daher für den Ausschluss entschieden. Eine sehr problematische Entscheidung, keine Frage. Leider ist das nie zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegangen. Hier kollidieren ja mehrere Grundrechte miteinander.

Dann eine Geschichte, wo gegen den Besuch des damaligen iranischen Staatspräsidenten Mohammad Chatami in Wien protestiert wurde. Einige Demonstranten rangelten mit der Polizei, das wurde als Widerstand gegen die Staatsgewalt angeklagt. Ich habe im Urteil dann die iranische Regierung als klerikal-faschistisches Regime bezeichnet. Das hat dann wirklich dazu geführt, dass die iranische Botschaft bei der Regierung gegen das Urteil protestiert hat.

Dann die "Helmi-Prozesse". Ich hatte einen Ableger der "Operation Spring", im Landesgericht durften die Polizeizeugen mit Motorradhelmen auftreten, um unkenntlich zu bleiben. Ich habe aber gesagt: ,Nein, der Zeuge muss sein Gesicht herzeigen. Den Zeugenschutz stell' ich vielleicht so her, dass der Angeklagte hinausgehen muss.' Das wurde bestätigt, es ist sogar eine Gesetzesänderung gemacht worden.

Und einer meiner ersten Fälle als Pflegschaftsrichter war ein Findelkind. Das war so ein bisschen Schicksal spielen. Ein Diplomatenehepaar hat das Kind adoptiert, aber dann hat sich die leibliche Mutter gemeldet. Und ich hatte die schwere Entscheidung, lass ich das Kind bei der Diplomatenfamilie oder geb ich es zurück in die leibliche Familie, die in sehr schlechten Verhältnissen gelebt hat. Ich habe mich dann dafür entschieden, das Kind nicht der leiblichen Mutter zurückzugeben.

STANDARD: Sie sind auch medial gegen die Auflösung des Jugendgerichtshofs aufgetreten. Wie sehen Sie es heute?

Gerstberger: Das war natürlich eine wirkliche Zäsur in meinem Leben. Wir Jugendrichterinnen und Jugendrichter waren der Meinung, dass eine Großstadt wie Wien eine eigenständige Jugendgerichtsbarkeit braucht. Es war ja nicht nur ein Strafgericht, sondern auch ein Familiengericht. Es war für uns schockierend, dass ohne Not mit aufgesetzten Gründen entschieden wurde, diesen Gerichtshof, der eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte war, einfach zuzusperren.

STANDARD: Warum, glauben Sie?

Gerstberger: Ich glaube bis heute, der wahre Grund für die Auflösung des Jugendgerichtshofs war, dass wir nach der Einführung der Gesetze für "junge Erwachsene", also die 18- bis 21-Jährigen, mehr Richter gebraucht hätten. Da gab es viele Bewerbungen, aber keine aus dem Landesgericht Wien. Das hat den Böhmdorfer furchtbar geärgert, ich glaube, man wollte sich des Problems einfach entledigen, indem man die beiden Gerichte zusammenlegte. Das hat dazu geführt, dass es ein Problem des Personalsenats des Landesgerichts wurde, wer Jugend- und wer Erwachsenenstrafsachen macht – und das hat nicht dazu geführt, dass mehr Richter gebraucht werden. Im Hintergrund gab es im Ministerium auch Pläne zu einer Umgestaltung der Gerichtsorganisation in Wien, die dann nie gekommen ist. Wir waren das einzige Opfer.

STANDARD: Sie waren der Präsident des Jugendgerichtshofs. Wie haben Sie es erlebt?

Gerstberger: Es war für mich schon eine recht schlimme Zeit. Für mich ist in gewisser Weise eine Welt zusammengebrochen. Jetzt muss ich aber sagen, damals begann so die zweite Phase meines Richterlebens. Ich war ja auch Obmann der Jugendrichtervereinigung und habe die Zeit genützt, um ein bisschen was von dieser Idee, wie wir sie am Jugendgerichtshof praktiziert haben, herüberzuretten in das neue System. Und das ist eigentlich sehr gut gelungen. Wir sind sehr gut integriert worden ins Landesgericht. Mir haben sogar viele Anwälte gesagt, die ganze Stimmung im Grauen Haus hätte sich durch den Einzug der Jugendrichter liberalisiert.

STANDARD: Würden Sie wieder einen Jugendgerichtshof einrichten, wenn Sie könnten?

Gerstberger: Ja, ich glaube einfach, dass eine Millionenstadt wie Wien einen braucht. Was wir früher zentralisiert bearbeitet haben, ist mittlerweile auf das Landesgericht und zwölf Bezirksgerichte aufgeteilt. Dadurch ist Expertise verloren gegangen. Man sollte zumindest alle Jugendstrafsachen bei einem Wiener Bezirksgericht, zum Beispiel der Josefstadt, konzentrieren. Das wäre eine leicht zu bewerkstelligende Maßnahme.

STANDARD: Ist auch die Untersuchungshaft gemeinsam mit Erwachsenen in der Justizanstalt Josefstadt ein Problem?

Gerstberger: Ja natürlich, dagegen sind wir Sturm gelaufen. Es ist zwar eine eigene Abteilung, aber die lebt ja nicht im luftleeren Raum. Es ist die Atmosphäre eines Großgefängnisses, wo Schwerstkriminelle drinnensitzen. Auch wenn sie von den Jugendlichen getrennt sind, ist es durchlässig. Zumindest das hätte man mit einem eigenen Jugendgefängnis reparieren müssen. Unter der Justizministerin Maria Berger (SPÖ) gab es dafür zwar schon ganz konkrete Pläne, aber dann kam der Wechsel von Alfred Gusenbauer zu Werner Faymann, und das Justizministerium ist weggewandert von der SPÖ zur ÖVP. Und die hat sich dem verbunden gefühlt, was sie mit den Freiheitlichen gemeinsam aufgelöst hat.

STANDARD: Stichwort Politik: Herr Bundeskanzler Kurz vermutet ja rote Netzwerke in der Justiz, zumindest in der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft. Sie wurden noch unter dem roten Bundeskanzler Bruno Kreisky vom roten Justizminister Christian Broda zum Richter ernannt. Gibt es diese roten Netzwerke?

Gerstberger: Nein, das ist absolut lächerlich. Es gibt keinerlei rote Netzwerke in der Justiz, es sind auch die meisten Richter und Staatsanwälte nicht parteigebunden. Ich kann natürlich nicht für jeden einzelnen Kollegen die Hand ins Feuer legen, aber ich habe 40 Jahre in der Justiz gearbeitet, und ich kann wirklich bestätigen, es ist ein Haufen von unabhängigen Individualisten. Natürlich haben manche ihre politischen Einstellungen, die man vielleicht auch merkt. Aber dass es ein Netzwerk gäbe, wo man zusammenarbeitet und schaut, dass man nur seine Leute unterbringt, kann ich für die Justiz wirklich ausschließen.

STANDARD: Mit politischen Urteilen haben Sie sich am Ende Ihrer Karriere aber auch beschäftigt?

Gerstberger: Ich war in den letzten Jahren auch zuständig für die sogenannten "Aufhebungs- und Rehabilitierungsakten", eine Tätigkeit, die mich sehr berührt hat. Das sind Fälle, wo offenkundig politische Urteile ergangen sind, hauptsächlich aus dem Dritten Reich, aber auch aus dem Austrofaschismus, wo jetzt Angehörige von Verurteilten Anträge stellen auf Rehabilitierung. Da konnte ich eine Reihe von Menschen rehabilitieren. Zum Beispiel der Fall Anton Schmid, ein Wehrmachtsunteroffizier, der im Ghetto von Wilna Juden gerettet hat. Den habe ich rehabilitiert, das war einer meiner letzten Akten. Weil ich immer leidenschaftlich gegen jede Form nur beginnender Diktatur angekämpft habe, hat mich die Beschäftigung mit diesen Akten, wo die Justiz auch Handlanger eines politischen Systems geworden ist, besonders interessiert.

STANDARD: Gibt es Erfolge, auf die Sie besonders stolz sind?

Gerstberger: Ja, die Einführung der Diversion und die kontradiktorische Einvernahme im Sexualstrafrecht, die wir auf den Weg gebracht haben. (Michael Möseneder, 30.12.2020)