Die Erfolgsautoren Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre (hinten) sind beide große Freunde des Anzugs. Der bindet nicht unnötige Aufmerksamkeit – weder die eigene noch die des Gegenübers.

Foto: Maurice Haas / Diogenes-Verlag

"Ich kann nicht mehr folgen, Benjamin!" – "Man muss es schon auch ein bisschen wollen, Martin!", heißt es nach 210 Seiten. Die Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre und Martin Suter haben sich bereits über den Konsum von "LSD", gestammelte "Äähm" und "Oder?", die Aussprache von "Ibiza" und die "Mundharmonika" unterhalten, die Suter seit seinem 20. Lebensjahr spielt, weil er zu Hause mit Freunden trinken wollte. Nun scheitert Suter aber daran, den etwas fahrigen Gedankensprung von der Tausend-Franken-Note, die er einmal aus einem Bankomaten "rausgelassen" hat, auf seinen Hund nachzuvollziehen. Jeder darf mal aussteigen.

Die Szene entstammt dem Anfang Dezember erschienenen Band Alle sind so ernst geworden. Darin hantelt sich das Duo durch 16 Themenfelder, um jeweils von den zentralen Stichworten in diverse Richtungen auszufransen. Miteinander gesprochen haben beide in diversen Hotels der gehobenen Kategorie wie auch bei Suter daheim. Wie es zu der ungleichen Paarung gekommen ist?

Untenrum neonorange

Die erste Begegnung fand 2018 in Badehosen im Grand Hotel Heiligendamm an der Ostsee statt. Da kam der Schweizer Erfolgsautor am Strand auf den ehemaligen Popliteraten zu und war untenrum ganz anders gekleidet, als der es erwartet hätte: neonorange. Die Sympathie war sofort groß, rekapitulieren beide. Die Schilderung, wie es zum Kauf des Textils kam, mündet in Suters Erinnerung, dass er schon als Kind mit Krawatte auf dem Fahrrad saß: "Ich habe auch Sommeranzüglein gehabt aus Baumwolle".

Das sitzt! Der Literatur-Sir (72), der mit seiner auf entgeltliche Abos für famose Kurztexte spezialisierten Homepage zuletzt die Autorenwebsite neu erfand, und der einstige Querulant (44) ergeben eine tolle Mischung. Bald haben sie im Kapitel "Badehosen" Anzüge als Methode erörtert, sich weder Gedanken über ihr Outfit machen zu müssen noch andere durch Äußerlichkeiten von brillanten Gedanken abzulenken.

Instagram in 3D

Es sind Seiten wie Windgebäck: ein köstliches Nichts, hochtourig aufgeschlagen aus Luft und Zucker. Suter wie auch Stuckrad-Barre sind bekennende Freunde der "Künstlichkeit". Man sollte folglich mit Vorsicht genießen, was sie kredenzen. Besonders wenn man sich schon in den inneren Kreis aufgenommen fühlt, weil Suter zugibt, seine Tochter habe seinen Versuch, ihre Pubertät mit Glitzer in einem Glas Wasser abzubilden, mit "Hau ab!" quittiert. Stuckrad-Barre wurde übrigens in dem Jahr geboren, in dem Suter sich in seine Frau Margrith verliebte. Er kann Suters Lob langer Liebe frisches Verliebtsein entgegenhalten.

Die Worte "Corona" und "Trump" kommen nie vor. Es gibt genug anderes! Von der Kitschhochzeit eines TV-Darstellers ("als würde man Instagram mittels eines 3D-Druckers in die Wirklichkeit konvertieren") über die Unarten der neueren deutschen Rechtschreibung bis zu Suters verfeinerten Essgewohnheiten ("Fischstäbchen mache ich selten") und dem mutwilligen Nichtbezahlen eintrudelnder Rechnungen ("Mich reut jeder einzelne Rappen").

Stuckrad-Barre ist der Motor der Konversation. Schnell zu sein, hat er als Gagschreiber für Harald Schmidt gelernt, die Bereitschaft, sich selbst in die Waagschale zu werfen, mit Büchern wie Panikherz bewiesen. Suter fängt ihn besonnen wieder ein, bevor alles aus dem Ruder läuft.

"Ach, Österreich!"

In der schweizerisch-deutschen Freundschaft spielt Österreich als Ort der Freunderlwirtschaft immerhin eine Nebenrolle: In seiner Zeit als Werber stand Suter einst auf der Fahndungsliste des heimischen Zolls. Er hatte das Auto eines Freundes ... – lesen Sie selbst. Jedenfalls traute er sich für ein paar Jahre nicht mehr, nach Wien zu reisen, woraufhin ihm ein Werbeagenturchef erklärte, er sei befreundet mit … und jener könne das regeln. "Ach, Österreich! So ist komplett Österreich organisiert", ruft Stuckrad-Barre aus.

"Konzeptionsloses Gelaber" oder "hochgeistiges Pingpong"? Alle sind so ernst geworden ist beides. Der Band zeigt die Könnerschaft, aus oberflächlichen Stichworten anregende Fäden zu spinnen. Besonders bestechend angesichts der sonst gerade sehr verengten Meldungslage. (Michael Wurmitzer, 31.12.2020)