Der britische Premierminister Boris Johnson.

London – Dem geordneten Ausscheiden Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt steht nichts mehr im Weg. Bei der Sondersitzung des Unterhauses am Mittwoch votierten 521 Parlamentarier für den Brexit-Anschlussvertrag, 73 stimmten dagegen. Für den späten Abend wurde auch die Zustimmung des Oberhauses sowie – als Formalie – die Genehmigung der Queen erwartet. Nach dem formalen Austritt Ende Januar und dem elfmonatigen Verweilen in einer Übergangsphase endet damit die 48 Jahre lang währende Teilnahme des Vereinigten Königreiches am europäischen Einigungsprojekt.

Der Vertrag über den zukünftigen Handel sowie die Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen war nach monatelangen Verhandlungen am 24. Dezember zustande gekommen. Nach der Zustimmung der 27 Mitgliedsstaaten konnten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel das Schriftstück am Mittwoch unterzeichnen und nach London schicken, wo Premierminister Boris Johnson seine Unterschrift leistete.

"Nachbar und Alliierter"

Der Austritt nach fast einem halben Jahrhundert der Mitgliedschaft in der EWG, EG und EU sei nie als "Bruch mit unseren nächsten Nachbarn" gemeint gewesen, beteuerte der einstige Anführer der Brexit-Kampagne im Unterhaus. Vielmehr habe man eine Lösung für das schwierige Verhältnis des Königreichs zum europäischen Einigungsprojekt angestrebt: "Erst hielten wir uns fern, dann wurden wir ein halbherziges, oft hinderliches Mitglied." In Zukunft werde sein Land ein "freundlicher Nachbar und bestmöglicher Alliierter" Europas sein, sagte der Premierminister.

Dem 1246 Seiten umfassenden Vertrag war die Zustimmung bereits dadurch gesichert, dass sich Oppositionsführer Keir Starmer zur Unterstützung der Regierungsposition entschlossen hatte: Es gelte, die Katastrophe eines chaotischen Übergangs ("No Deal") zu vermeiden. Der Labour-Chef kritisierte die Vereinbarung als "dünn", zumal der für Großbritannien entscheidende Dienstleistungssektor und damit 80 Prozent der Volkswirtschaft darin kaum berücksichtigt werde. Vor allem die Finanzindustrie am Standort City of London trägt jährlich viele Milliarden zur britischen Exportbilanz bei.

May kritisiert Johnsons Deal

Scharf ins Gericht mit dem erzielten Ergebnis ging auch Johnsons konservative Amtsvorgängerin Theresa May: "Von diesem Deal profitiert der Handel mit Gütern und damit die EU." Den triumphierenden Anti-Europäern in ihrer Fraktion schrieb die einstige Premierministerin (2016-19) ins Stammbuch: "Dieser Vertrag löscht die EU nicht aus unserem Leben. Souveränität bedeutet nicht Isolationismus." Eindringlich drängte die versierte Innenpolitikerin ihre Regierung dazu, besseren Zugang zu den EU-Datenbanken zu erlangen, die der Bekämpfung von internationaler Kriminalität, Terrorismus und Menschenhandel dienen.

Anders als Starmer und May ließen eine eine Handvoll Labour-Abgeordnete ihrer Kritik ein ablehnendes Votum folgen. Mit Nein stimmten auch die pro-europäischen Liberaldemokraten sowie die Nationalistenparteien von Schottland und Wales sowie sämtliche Abgeordnete aus Nordirland, darunter auch die Brexitbefürworter der protestantischen DUP. Die Partei von Ministerpräsidentin Arlene Foster machte "prinzipielle Gründe" gegen das Vertragswerk geltend, was mit dem Nordirland-Protokoll zu tun hat. Dieses regelt den Handel zwischen dem Nordosten der grünen Insel und Grossbritannien, damit die innerirische Landgrenze offen bleiben kann.

Das schottische Parlament verweigerte dem Vertragswerk am Nachmittag mehrheitlich die Zustimmung. Die verfassungsrechtlich irrelevante Geste soll Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon im beginnenden Wahlkampf vor dem regionalen Urnengang im Mai Aufwind geben. Außer Sturgeons SNP, den Grünen und Liberalen stimmte auch die örtliche Labour-Fraktion mit Nein – ein Gegensatz zur Position der Londoner Partei, auf die Oppositionsführer Starmer mehrfach genüßlich hingewiesen wurde. (Sebastian Borger aus London, 30.12.2020)