Für alle, die auf goldene 2020er-Jahre gehofft hatten und von den zurückliegenden zwölf Monaten bitter enttäuscht wurden, gibt es zumindest eine gute Nachricht: Der Beginn der neuen Dekade steht uns eigentlich erst bevor! Der Grund dafür hat mit der scheinbar vernachlässigbarsten Zahl unseres Zahlensystems zu tun: der Null. Über Jahrtausende wurde die Null aus politischen und religiösen Gründen abgelehnt, was bis heute Verwirrung in unseren Kalender bringt.

Feuerwerke sind zwar aktuell nicht erlaubt, dafür gibt es den Beginn einer neuen Dekade zu feiern – auch wenn das wenig intuitiv scheint.
Foto: iStock/Getty

Letzteres ist an einem Tag wie heute besonders augenscheinlich und führt verlässlich bei Jahrhundertwenden oder am Übertritt von einer Dekade in die nächste zu emotionalen Diskussionen. So manch einer erinnert sich vielleicht noch an die hitzigen Debatten zur Jahrtausendwende. Doch das war längst nicht der erste Streit, der sich an einem Fin de Siècle entfachte. Am 26. Dezember 1799 stand etwa in der Londoner The Times zu lesen: "It is a silly, childish discussion and only exposes the want of brains of those who maintain a contrary opinion to that we have stated."

Zwei Aufgaben für die Null

So leicht machen wir es uns nicht. Aber um die Frage zu klären, ob die 2020er-Jahre am 1. 1. 2020 begonnen haben oder erst am 1. 1. 2021 beginnen, bedarf es eines kurzen Streifzugs durch die wechselhafte Geschichte der Null. In unserem Dezimalsystem kommen ihr zwei unterschiedliche Aufgaben zu: die Null als eigenständige Zahl und die Null als Ziffer, sprich als Platzhalter. Die simple Rechnung 5 – 5 = 0 bringt uns ohne Umwege zur Null als Zahl.

Die Platzhalterfunktion der Null erlangte zuletzt im Mai große Aufmerksamkeit durch den Budget-Entwurf von Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP), der irrtümlicherweise sechs Nullen unter den Tisch fallen ließ. Sechs Nullen wären keine große Sache, ginge es um die Zahl Null. In Blümels Budget ging es aber um die Ziffer Null, und in diesem Fall schlugen die fehlenden Nullen als Millionen zu Buche.

Die Platzhalterfunktion der Null ist viel älter als ihr Stellenwert als selbstständige Zahl. Bereits die Babylonier verwendeten vor rund dreitausend Jahren einen Vorläufer der Null, um Doppeldeutigkeiten in ihrem sexagesimalen Rechensystem, das nicht zehn, sondern sechzig als Basis hat, zu vermeiden.

Verdammt und revolutioniert

Die herausragenden Mathematiker des alten Griechenlands kannten die babylonische Null, weigerten sich aber, diese in ihr Zahlensystem aufzunehmen. Das hatte teils mathematische, teils philosophische Gründe. Für einen Denker wie Pythagoras gab es eine tiefe mystische Verbindung zwischen Formen und Zahlen. Das mathematische Verständnis im antiken Griechenland war dominiert von Geometrie. Doch der Null lässt sich nicht so einfach eine geometrische Form zuordnen.

Hinzu kam die von Aristoteles ausgegebene Doktrin, dass es das Nichts nicht gibt: Im Gegensatz zu den frühen Atomisten Leukipp und Demokrit vertrat Aristoteles die Ansicht, dass es keine Leere geben könne, denn leerer Raum würde sofort von den umgebenden Körpern ausgefüllt werden. Diese Sichtweise stand den griechischen Mathematikern dabei im Wege, die Null als Zahl in ihr Zahlensystem aufzunehmen.

Wenige Jahrhunderte später und viele Breitengrade entfernt kamen indische Mathematiker ebenfalls mit der babylonischen Null in Kontakt und erweiterten ihre Funktion. Im Gegensatz zu den Griechen hatten die indischen Gelehrten keinerlei Probleme damit, das Nichts in der Mathematik anzuerkennen – im Gegenteil. Hinzu kam, dass sich indische Mathematiker weniger auf die Geometrie konzentrierten als auf Berechnungsmethoden.

Als ältester dokumentierter Beleg für die Null gilt das Bakhshali-Manuskript: Der Punkt in der untersten Zeile stellt eine Null dar. Die Handschrift stammt auf dem zweiten bis vierten Jahrhundert.
Foto: APA/AFP/Bodleian Libraries

Zu früh gefeiert?

Was hat das nun alles mit dem Wechsel in die 2020er-Jahre zu tun? So nützlich die Zahl Null unserem heutigen Verständnis nach ist, in Europa hatte sie lange keinen guten Stand. Erst in der Renaissance verschwanden die alten römischen Zahlen, die arabischen Zahlen wurden zum Mainstream für alltägliche Berechnungen – inklusive Null.

Der heute verwendete gregorianische Kalender entstand im späten 16. Jahrhundert durch eine Reform des julianischen Kalenders. Dabei wurden einige Schwachstellen korrigiert, um ein Auseinanderdriften von Kalender- und Sonnenjahr zu verhindern. Doch ein Manko blieb unverändert: Dem gregorianischen Kalender fehlt das Jahr null.

Das erste Jahr unserer Zeitrechnung ist das Jahr 1 n. Chr., gefolgt von 2 n. Chr. und so weiter. Folgt man der Zeitreihe in die andere Richtung, gehen dem Jahr 1 n. Chr. die Jahre 1 v. Chr., 2 v. Chr. und so weiter voraus. Gemäß unserem heutigen mathematischen Verständnis ist das mehr als ungewöhnlich, würden wir doch das Jahr null zwischen den Jahren vor Christus und den Jahren nach Christus vermuten. Doch für die Mönche des Mittelalters, auf die dieser Kalender zurückgeht, war das undenkbar.

Ehe es also zu einer neuen Kalenderreform kommt, bleibt es bei der wenig intuitiven Regelung, dass die Eins neue Dekaden und Jahrhunderte einläutet. In diesem Sinne: guten Rutsch in die 2020er-Jahre! (Tanja Traxler, David Rennert, 31.12.2020)