Ein probates Mittel, um etwaige Triebregungen erfolgreich zu unterdücken? Franz von Defreggers unbekannte Seite: "Ruhender weiblicher Akt", gemalt um 1890.

Foto: Privatbesitz

Die Tiroler sind "treuherzig, tapfer, rechtschaffen, fromm, zum äußersten Defregger entschlossen": Alfred Polgar brachte 1913 in seiner Besprechung von Ferdinand Bronners Drama Vaterland auf den Punkt, wie sehr Franz von Defregger (1835–1921) mit Historienschinken wie Das letzte Aufgebot das Bild der mit Mistgabeln bewehrten, stolzen Bauernrebellen geprägt hat. Man könnte auch sagen: Defregger ist schuld an der sich hartnäckig haltenden Vorstellung vom sturen Bergvolk, das auf ewig einem bigotten Wirten aus dem Passeiertal nachweint, am stereotypen Bild des Älplers in zünftiger Tracht und mit Feder am Hut.

Kunst der Reproduktion

Gut, man muss an dieser Stelle einräumen, dass vor Defregger auch schon andere an der Folklorisierung des Tirolertums und dessen angeblichen Wehrhaftigkeit gewerkt haben. Dennoch kommt dem 1835 in Osttirol geborenen Künstler dabei eine besondere Bedeutung zu, denn er hatte früh die Möglichkeiten der Kunstreproduktion erkannt. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere zählten Defreggers Werke zu den meistreproduzierten im deutschsprachigen Raum, "den Reproduktionen seiner Bilder begegnet man in den Schaufenstern von Neuyork, Kalkutta und Sidney gerade so wie in den Läden von München, Berlin und Wien", schrieb 1905 sein Freund Peter Rosegger.

Womöglich hatte ja auch der US-Eisenbahn-Tycoon William Henry Vanderbilt in eines dieser Schaufenster geblickt, bevor er 1881 direkt bei dem Künstler ein Gemälde in Auftrag gab. Gute Aussicht zeigt eine Reisegesellschaft in einer Almhütte, die Damen umringt von zünftigen Tirolern, und aus einer Ecke heraus eifersüchtig beäugt von den rechtschaffenen Mädeln in Tracht.

Das Gemälde galt lange als verschollen, im Ferdinandeum ist es nun erstmals öffentlich zu sehen. Dass Werke wie dieses für die Ausstellung Defregger. Mythos – Missbrauch – Moderne zum 100. Todestag des Künstlers aufgetrieben werden konnten, ist bemerkenswert, noch bemerkenswerter sind aber die bisher nahezu unbekannten Seiten des Künstlers, die hier beleuchtet werden: Der Meister der akademischen Feinmalerei überrascht mit einem freien, offenen Pinselstrich, impressionistisch anmutenden Landschaften, weiblichen Akten, Porträts von Menschen aus fernen Kulturen, Bauerngesichtern, denen nicht Stolz, sondern das karge Leben in die Züge modelliert ist.

Van Gogh und Kirchner

Niemals geht Defregger dabei so weit wie die Avantgardisten seiner Zeit, wie sich in einem der spannendsten Ausstellungskapitel zeigt, in dem seine bäuerlichen Motive neben solchen von Ernst Ludwig Kirchner oder Vincent van Gogh zu sehen sind, deutlich tritt aber sein Hang zum französischen Stil hervor, er dürfte während seines Paris-Aufenthalts 1863 bis 1865 entstanden sein, blieb der Öffentlichkeit aber weitgehend verborgen.

Defregger trennte strikt zwischen "privatem" und öffentlichem Werk. Wohl auch, um sein Geschäftsmodell nicht zu gefährden. Allerdings wurde dieses nach 1900 allmählich brüchig. In den 1870ern und 1880ern traf Defregger den Massengeschmack der Gründerzeit und stieg zum Münchner Malerfürsten auf. Doch wie das oft so ist mit dem Mainstream, gilt er retrospektiv gesehen nicht unbedingt als die epochemachende Schöpfung seiner Zeit. Defreggers Stern sank in seinem letzten Lebensdrittel rapide, seine ewig gleichen bäuerlichen Heile-Welt-Szenen und Freiheitskampf-Motive galten als bieder-reaktionär. Kommt die posthume Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten hinzu: Hitler sah gerade in den Darstellungen der Freiheitskämpfer so etwas wie Vorläufer der eigenen "Führernatur".

Für die Keuschheit

Glaubt man dem Pressetext, wirkt Franz von Defregger in seiner Heimat bis heute "identitätsstiftend", eine Behauptung, die noch ausführlicher zu diskutieren wäre. Kurator Peter Scholz ist jedenfalls redlich darum bemüht, neben dem neu entdeckten "privaten" Defregger auch problematische Aspekte wie die politische Aufladung seiner Gemälde zu beleuchten, die Defregger – auch hier ganz Geschäftsmann – sehr bewusst in die bevorzugte Richtung der jeweiligen Auftraggeber steuerte.

Wie überrascht wohl auch Zeitgenossen auf Defreggers Aktdarstellungen reagiert hätten, lässt sich wiederum aus Frank Wedekinds skandalträchtigem Drama Frühlings Erwachen ablesen: Darin taucht Defreggers akademisch-keusche "Loni" als probates Mittel auf, um aufkeimende sexuelle Gelüste im Keim zu ersticken. (Ivona Jelčić, 31.12.2020)