"Die Diskretion, nur zu zeigen, nicht zu
sagen ...": die US-amerikanische Dichterin und Nobelpreisträgerin Louise Glück neben ihrer Nobelpreis-Medaille.
Foto: EPA

Als Stockholm anrief und fragte, ob sie Zeit habe, gewährte Louise Glück nur "two minutes". Sekunden später war sie die frisch auserwählte Nobelpreisträgerin für Literatur 2020.

Wie fühle sich das an? "It’s new!", antwortete die Lyrikerin knapp. Die Audienz war abgelaufen, und Stockholm hielt sich dran, mit verständnisvollen Worten: "You suffered enough." Diese im Netz nachzuhörenden Stimmen könnten aus einem Gedicht Louise Glücks stammen.

"Lived Experience", Erfahrungen aus der Lebenswirklichkeit, stellen die Ausgangssituationen in vielen ihrer Gedichte dar. Die Atmosphäre entwickelt sich aus den zusammenlaufenden Wirklichkeitsfäden. Eine Situation mag banal erscheinen, die Wucht aber entfaltet sich gerade durch den lapidar anmutenden Stil.

Natürlich kommt es dabei auf die präzisen Beobachtungen an. Banal erscheint, was alltäglich ist, wie auch Geburt und Tod, nur für das Individuum und seine sozialen Beziehungen sind diese Ereignisse alles. Mit ein paar wenigen Strichen zeichnet Glück die Situation ihrer Protagonisten hin, entfaltet zugleich den Raum für vielschichtige Interpretation. Ein Myzel der Assoziationen, Fragen und Bedeutungsvielfalt tut sich auf. Die umwälzende Kraft von Glücks Gedichten geht erst bei der wiederholten Lektüre auf. Noch ist man auf die englische Lektüre angewiesen, nur wenig ist übersetzt. Da ich es täglich mit Zetteln zu tun habe, zog mich die Titelzeile folgenden Gedichtes an:

A SLIP OF PAPER

Today I went to the doctor –

the doctor said I was dying,

not in those words, but when I said it

she didn’t deny.

Ich bemerkte sofort die geschlechtszuweisende Interpretation meinerseits, weil ich beim Wort "Doctor" an einen Mann denken musste, der sich in der letzten Zeile als Ärztin entpuppt. Natürlich fragt man sich, wie es möglich sein kann, so unbewusst eine deutschsprachige Genderstruktur anzuwenden. Die Zuschreibungen in diesem Gedicht, das aus dem Band A Village Life (2009) stammt, ordnen sich in die Per spektive eines englischsprachigen Ichs ein. Der innere Monolog entströmt einem männlichen Patienten, der gegenüber der Ärztin zur Reflexion über seine Existenz aufläuft.

Das Gefälle der Akteure in dieser Arztszene ist augenfällig, die Frau ist stark, der Mann schwach. Schlimmer noch, er spürt seine Ohnmacht. Gute Gedichte lassen ihre Struktur klingen, die Stimme des Mannes ist sein Denkmuster. So auch in der nächsten Strophe, wenn der Ärztin folgende Worte in den Mund gelegt werden:

What have you done to your body, her silence says.

We gave it to you and look what you did to it,

how you abused it.

I’m not talking only of cigarette, she says,

but also of poor diet, of drink.

Das ICH verarbeitet das Schweigen der Ärztin als Vorwurf. Ein WIR wird eingeführt, die ärztliche Funktion in die Position eines Plurals verschoben. Handelt es sich um eine wohlwollende oder um den Beschluss mehrerer Autoritäten, die dem Leben einst diesen Körper gaben? Die erste Person Plural ist das weibliche Element. Mutter, Natur, Leben. Die Gesellschaft in Repräsentanz der Ärztin tritt als Lebensspenderin auf. Der Empfänger ist das ICH des Gedichtes. Das Subjekt hat aber die Spende, den Körper, nur strapaziert, mit Drogen misshandelt.

Im Pluralis Majestatis spitzt sich die Enttäuschung über das ICH zu. Das Subjekt versteht die Untertöne dieser jungen Ärztin, die wohl eine Rolle der Besserwisserin einnimmt. Sie ist der Lebenswirklichkeit entrückt, durch den Kittel und Diplome. Das ICH bringt sich nun in Position und beobachtet, als könnten die Sinnesorgane für Waffengleichheit und Augenhöhe im inneren Monolog sorgen.

She’s a young woman: the stiff white coat disguises her body.

Her hair’s pulled back, the little female wisps

suppressed by a dark band. She’s not at ease here,

behind her desk, with her diploma over her head,

reading a list of numbers in columns,

some flagged for her attention.

Her spine’s straight also, showing no feeling.

Die Ärztin wird zur Frau mit zurückgebundenem Haar und weiblichen Irrlichtern der Verführung. Sie fühlt sich selber nicht wohl in der Rolle der Urteilenden. Zumindest kontert die Stimme des ICHs zart, aber bitter ironisch.

No one taught me how to care for my body.

You grow up watched by your mother or grandmother,

once you’re free of them, your wife takes over, she’s nervous,

she doesn’t go too far. So this body I have,

that the doctor blames me for – it’s always been supervised by

women,

and let me tell you, they left a lot out.

Hier rechnet jemand mit der Lebensspenderin ab, schlüpft in ein DU. Es ladet zum Verständnis ein, sich gegen die Vorwürfe zu verbünden. Das Selbstgespräch formt sich zu einer selbstmitleidigen Ansichtssache. Das DU mit seinem ICH bildet eine solipsistische Blase der Selbstvergewisserung, will Fremdheit wegredend mit dem DU leben.

Unmissverständlich schwingt hier die Klage über die Einsamkeit und Verlassenheit mit, eine andauernde Vertreibung aus dem Paradies. Was wissen die Lebensspenderinnen von der Entität des Körperseelengeflechts einschließlich der Sexualität und den damit verbundenen, seelischen Nöten des hier sitzenden Patienten-Ichs?

Die Instanz einer Ärztin erkennt zumindest die Verlorenheit an. Sie weiß ein Medikament gegen mangelhaften Blutdruck zu verschreiben. Die hier gezeichnete Weiblichkeit bleibt dem Kern der Not fern. Sie verweigert durch ihr Rezept wahre Nähe des Trostes. Sie scheint die Bedürftigkeit nicht einmal zu bemerken, sondern vollzieht nur ihre berufliche Abgrenzung.

The doctor looks at me –

between us, a stack of books and folders.

Except for us, the clinic’s empty.

Die Leere einer Klinik ist wie der Vorhof zum Totenreich. Die Klinik selbst wird zu einer Weiblichkeit, in der die Lebenden einander in den Geburtskanal des Todes stoßen. Nur deshalb sind sie hier, die Ärztin und das Ich, weil sie bisher über lebten.

There’s a trap-door here, and through that door,

the country of the dead. And the living push you through,

they want you there first, ahead of them.

Die erotische Konnotation des Motivs "Der Tod und das Mädchen" bleibt nicht aus. Nur verkündet hier das Mädchen das Todesurteil. Die gesichteten Irrlichter der Weiblichkeit umtanzen den Mann. Das ICH ringt um die Deutungshoheit, denn es weiß auch um die Vergänglichkeit der Ärztin. Banale Einsicht, tödlich wahr, wird zum Hilfsmittel, die Angst vor der Einsamkeit und dem Sterben zu entschärfen.

The doctor knows this. She has her books,

I have my cigarettes. Finally

she writes something on a slip of paper.

This will help your blood pressure, she says.

Die Ärztin schreibt kein Rezept gegen den Tod, nur "für" den Blutdruck – ihre Hilflosigkeit steckt in der konkret dargestellten Handlung. Auf adjektivisches Beiwerk verzichtet Glück. Drei Eigenschaftswörter lassen sich in der zweiten Strophe finden: white, female, dark. Zwischen Weiß und Schwarz steht das Weibliche, die Ärztin, eine Fährfrau zwischen Tag und Nacht, Metaphern für Leben und Tod.

Das ausgestellte Rezept, A SLIP OF PAPER, ist das Ticket in die andere Sphäre.

And I pocket it, a sign to go.

And once I'm outside, I tear it up, like a ticket to the other world.

Der Lebensriss kann nicht zerrissen werden, der Vertrag mit dem Tod ist nicht auf Papier geschrieben.

Der Zeitsprung zur nächsten Strophe markiert die bisherige Gegenwart als Geschichte. Der Blick löst sich und schweift über das Dorf. Bricht nun das Gedicht in die auktoriale Per spektive um?

Die Ärztin gerät außerhalb der Klinik in den Fokus. Ihr Körper weckt Lust. Eine Stimme, die des ICHs ist zu vermuten, resümiert die Umstände und verbindet sie mit Stimmungslage im Village.

She was crazy to come here,

a place where she knows no one.

She’s alone; she has no wedding ring.

She goes home alone, to her place outside the village.

And she has her one glass of wine a day,

her dinner that isn’t a dinner.

Der Gedankenblick durchdringt die Oberfläche, geht an die Wäsche und legt sich auf die einsame Haut.

And she takes off that white coat;

between the coat and her body,

there’s just a thin layer of cotton.

And at some point, that comes off too.

Zuletzt erschien von Louise Glück
folgender Titel auf Deutsch: Louise Glück, "Averno. Gedichte". Übersetzt von
Ulrike Draesner. Luchterhand-Verlag 2020

Die Diskretion, nur zu zeigen, nicht zu sagen, wohin die erotische Konnotation reicht, maximiert die Sinnlichkeit. Das Leben ist ein Pakt mit dem Tod, dem der Körper mit allerlei Tricks zu entkommen trachtet. Glück verwendet nicht den bestimmten Artikel in Kombination mit Tod. Der Geborene ist somit nicht mit dem Tod im Pakt, er ist mit Tod, zu leben heißt sterben.

To get born, your body makes a pact with death,

and from that moment, all it tries to do is cheat.

You get into bed alone. Maybe you sleep, maybe you never wake up.

But for a long time you hear every sound.

It’s a night like any summer night; the dark never comes.

Das Gedicht schließt im Ton eines Nachtgebetes. Wie erlebt sich der Tod, falls man nicht mehr aufwacht? Glück setzt folgerichtig einen Strichpunkt. Denn das ICH müsste ja den Tod erleben, um erst einen Punkt setzen zu können. Das entspräche nicht der Logik. Die Dunkelheit es Todes wird nicht kommen, weil das ICH spricht bis zum Strichpunkt. So endet dieses schöne Gedicht mit dem wahrsagerischen Bann zum Trost,

the dark never comes

(Lydia Mischkulnig, ALBUM, 3.1.2021)