Hochalpine Großstädte voller architektonischer Ambitionen: Avoriaz und Tignes, zwei der 32 Skiorte, die im Buchprojekt "Été" dokumentiert wurden.
Foto: Schels/Unverzart
Foto: Schels/Unverzart
Foto: Schels/Unverzart

Um eine der schönsten Landschaften der Welt handle es sich hier, raunt dramatisch die Männerstimme. "Hier begegnen sich Mensch und Berg!" Fünf Sekunden später: ein Krachen. Berstende Felsen. Schnitt, ein Bulldozer im Schutt. Recht brutal läuft sie ab, die Begegnung von Mensch und Berg. Hier, auf über 1700 Meter Seehöhe in den französischen Alpen, in einer Wüstenei aus Stein, entstand von 1959 bis 1969 der Wintersportort Flaine, und der zur Eröffnung produzierte Werbefilm Flaine – La Création vibriert vor pathetischem Stolz, der selbst beim Anblick einer Materialseilbahn poetisch aufglüht.

Nicht unberechtigt, denn schließlich wurde hier mit Marcel Breuer ein veritabler Architekturstar gewonnen, der die zeilenartigen Bauten entlang der Höhenlinien anordnete, sodass sie den besten Ausblick boten, und der den Sichtbeton plastisch so modellierte, dass er sich dem Felsen anglich. Drinnen hingen Kunstwerke von Picasso und Vasarely, in den Clubs zappelten langhaarige junge Menschen zu Jacques Dutronc und den Stones. Ski-Destinationen wie Flaine waren urbane Orte, keine Spur von Zither, Dirndl, Schunkelschlager. Sie waren, wie es im Werbefilm heißt, "avant-garde" und "ultra-moderne".

Les Trente glorieuses nennt man in Frankreich die 1950er- bis 1970er-Jahre, eine Zeit des neuen Wohlstands. Die Arbeiter bei Renault genossen ab 1962 unglaubliche vier Urlaubswochen, was wenig später landesweites Gesetz wurde. Der daraus resultierende Massentourismus fand seine Form in Bettenburg-Städten wie La Grande Motte am Mittelmeer, aber "grand" ging es auch in den Alpen zu. Courchevel machte gleich nach dem Zweiten Weltkrieg den Anfang, 1964 folgte der Plan Neige, der mit typisch zen tralistischer Befehlsgewalt den Tourismus in die Höhe hievte.

Materialschlacht auf dem Berg

Bis 1975 waren 23 neue Orte entstanden, rund 20 weitere in Bau. Doch die Materialschlacht auf dem Berg hatte ein Ablaufdatum: Schon 1977 trug Präsident Valéry Giscard d’Estaing in einer Rede in Vallouise den Plan Neige zu Grabe. Der Tourismus der Zukunft, forderte er, "solle respektvoll mit der Landschaft umgehen".

Doch Flaine und Courchevel gibt es noch immer. Wie diese einst ul tramodernen Orte gealtert sind, zeigt ein soeben erschienener Bildband der beiden Münchner Fotografen Sebastian Schels und Olaf Unverzart. Unter dem nicht ganz unironischen Titel Été (Sommer) dokumentierten sie insgesamt 32 Skiorte, und zwar ohne Schnee und auch fast ohne Menschen.

Ohne Zuckerguss

"Im Winter hätten die Fotos zu sehr den Bildern entsprochen, die sowieso jeder im Kopf hat", erklärt Sebastian Schels. Ohne Schnee und Skigewusel sieht man die Hotel- und Apartmentburgen in ihrer Gänze. Manche scheinen wie riesige Kreuzfahrtschiffe im Gebirge gestrandet, in einer Landschaft, die ohne Zuckerguss fast wüstenartig leer und anonym wirkt, gelbbraun und staubig. Andere sitzen wie mittelalterliche Bergstädte im Hang. Viele offenbaren in ihren Details, wie die Architekten die Avantgarde mit Holz leicht "alpinisiert" haben, doch anders als in Tirol dient dies nicht dazu, die enorme Baumasse durch Rustikalkitsch zu kaschieren. Es sind Städte, Burgen, Maschinen, und sie sind stolz darauf. Dörflich ist hier nichts.

Ungewöhnlich an Été ist nicht nur die Jahreszeit, sondern auch die Kooperation der beiden Fotografen. Schels kommt aus der Architektur, Unverzart aus der Landschaftsfotografie, beide verbindet eine weitere gemeinsame Leidenschaft: das Rennradfahren. "Wir kannten diese Orte vor allem aus den Bergetappen der Tour de France im Fernsehen", erklärt Schels. Erkundet wurde letztendlich doch per Pkw, die Bilder und das Buch verstehen sie als Gemeinschaftsprodukt.

Tourismus ohne Urlaub

Trotzdem spürt man die kombinierten Blickwinkel von Architektur und Landschaft. Einmal wird der Blick auf die seltsam unbelebt und leer wirkende Natur gerichtet, ein andermal auf scheinbar banale Details oder Rückseiten der Gebäude. Die Bewertung wird ganz dem Betrachter überlassen. Oft erzählt der zweite Blick eine weitere Geschichte: die riesigen Parkplätze, die im Winter schneebedingt im Weichbild der Natur untergehen. Die Kirchtürme an Orten ohne Gemeinde. Wer liest hier die Messe, und für wen?

"Winterresorts sind alles andere als klassische Reiseziele. So wie auch der Urlaub sich vom Tourismus unterscheidet", schreibt Dietrich Erben, Professor für Archi tekturgeschichte an der TU München, in seinem begleitenden Essay. "Im Niemandsland der Berge bietet die Umgebung keine älteren Sehenswürdigkeiten." Die Architektur und ihre Inhalte mussten also selbst zur Attraktion werden: Luxusdampfer aus Beton mit riesigen Innenwelten für den Rundumaufenthalt: Sauna, Pool, Disco, Restaurant.

Été ist zwar das erste bildkünstlerische Projekt, das sich dem französischen Bergbrutalismus widmet, doch diese ruppige Ära der Architekturgeschichte wird schon seit Jahren hier und dort wiederentdeckt: jugoslawische Adria-Hotels, sowjetische Schwarzmeer-Resorts, britischer Waschbeton. Als Speerspitze der Spätmoderne wollen sich die beiden Fotografen aber gar nicht verstanden wissen. "Die Architektur war nicht der Initialzünder, die Idee kam aus unserer Begeisterung für die Berge und einer Faszination für Orte, die keine Vorgeschichte haben, die quasi im Nichts entstanden", erklärt Sebastian Schels. Doch zweifellos erscheint Été zur rich tigen Zeit: mit einem wehmütigen Rückblick auf eine Ära kosmo politischer Euphorie und einem sorgenvollen Blick nach vorn auf alpine Welten ohne Schnee, auf die kommenden Zeiten des ewigen Sommers. (Maik Novotny, 01.01.2021)