Mit erstaunlicher Geschwindigkeit, wenn man vergleichbare staatliche Stellen und ihr Wirken kennt, wurde nun von der im Sommer eingerichteten Dokumentationsstelle Politischer Islam ein Papier veröffentlicht. Wie der etwas umständlich geratene Titel „Der Politische Islam als Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen und am Beispiel der Muslimbruderschaft” schon vermuten lässt, zerfällt die Arbeit de facto in zwei Teile: Neben der konkreten Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Muslimbruderschaft (primär auf Basis einer bereits erschienenen englischsprachigen Studie aus 2017) wartet sie auch mit einem umfangreichen Einleitungskapitel des islamischen Theologen Mouhanad Khorchide auf, der das Themenfeld „politischer Islam” zu umschreiben versucht. Khorchide, prononcierter und weithin bekannter Vertreter einer sehr spezifischen „Reform“ des Islam, hat sich in den letzten Monaten in der öffentlichen Diskussion um die Dokumentationsstelle äußerst exponiert geäußert und wurde zuweilen in den Medien sogar als deren Leiter bezeichnet (was er allerdings nicht ist; er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats).

Dem ersten Teil, der nun eine Art Grundlagenpapier bietet, sieht man an, dass man sehr darum bemüht ist, den vielen Kritikpunkten zu begegnen, die sich um die Begrifflichkeit und die Stoßrichtung der Dokumentationsstelle entwickelt haben. So wird deutlich hervorgehoben, dass mit dem Begriff „politischer Islam“ nicht jedwede Form einer politischen Betätigung von Muslimen schon eine Problemanzeige mit sich bringen würde, sondern das mit dem Begriff vielmehr ein ganz spezifischer Bereich ausmarkiert werden soll. In Form von zusammenfassenden Literaturreferaten, die allerdings weit von einer wirklichen Durchdringung des Gesamtbereichs entfernt ist, wird herausgearbeitet, dass der Begriff „politischer Islam” durchaus ein gängiger Begriff in der Forschung war und schon länger Verwendung findet. Zu wenig kommt allerdings zum Tragen, dass es eine äußerst kontroverse Diskussion um diesen Begriff gibt und bedeutende Zweige der Islamforschung die Verwendung ablehnen. Zudem wird oft recht munter der Begriff „Islamismus“, der wiederum eine eigene Definitions- und Kontroversgeschichte hat, in die hier bevorzugte Begrifflichkeit „politischer Islam“ hineingemixt, was etwas undifferenziert erscheint (etwa beim für die Grundlagendefinition sehr wichtigen Verweis auf Tilman Seidensticker und dessen Zugang zum Islamismus).

Ist der Begriff „politischer Islam" nun geklärt?

Und da bleibt natürlich noch das Problem der Unschärfe des Begriffs, die sich um so mehr ergibt, wenn es um die konkrete Anwendung eines im Endeffekt sehr generischen Begriffsfeldes geht, der noch dazu in der Forschung umstritten ist. Und die bleibt auch weiterhin bestehen, weil eine genaue Auszirkelung dessen, was damit gemeint ist, schwer möglich scheint. Da hilft auch nicht die beliebte Hilfskonstruktion, den „politischen Islam“ zu einer „(Herrschafts-)Ideologie“ zu machen oder das beliebte Argument, das „Religion“, in diesem Fall also der „Islam“, einer (böswilligen) „Instrumentalisierung“ unterzogen würde. Ab wann das dann aber alles der Fall ist, wird nur über eine Reihe von Negativ- und Positivdefinitionen des Begriffs versucht, die naturgemäß viele Fragen offen lassen und damit wieder einer möglicherweise willkürlichen Einschätzung unterworfen sind.

Positiv hervorzuheben ist, dass es einen primären Bezugspunkt gibt, an dem sich die Definition abarbeitet. Und das ist die Orientierung an spezifischen „europäischen“ Werten, die unter anderem mit Menschenrechten, demokratischen Legitimationsstrukturen, einem grundlegenden Freiheitsbegriff und anderen Dingen verwoben werden. Hier erkennt man die eingangs angesprochene Handschrift des islamischen Reformtheologen Khorchide, dem es um das Konzipieren eines gleichsam „europäisch“ zugeschnittenen Islam geht. Alle Zugänge, die dem entgegenstehen, sind naturgemäß zu überwindende Faktoren, wenn auch viele Einzelfragen offen bleiben. Zustimmen kann man zudem der grundsätzlichen Analyse, dass es Strömungen innerhalb des breiten Spektrums des Islam gibt, die diesem Anliegen zuwiderlaufen und mit vielen positiven Errungenschaften der europäischen Moderne nichts anzufangen wissen beziehungsweise diese aktiv bekämpfen. Dass Kritik daran nicht gleich unter den Verdacht einer „Islamophobie“ geraten darf, ist fast selbstredend, zumal dieser Begriff die damit Bezeichneten unter Pathologieverdacht stellt.

Eine Moschee in Graz war einer der Zielorte der Razzien gegen die Muslimbruderschaft im November.
Foto: APA/ERWIN SCHERIAU

Ein blinder Fleck bleibt auf jeden Fall

Mit den Angaben im Text wird zumindest ein Teil der Unschärfe aufgehoben und ein gewisser Raster vorgegeben, innerhalb dessen sich die Arbeit der Dokumentationsstelle bewegen soll. Allerdings bleibt etwas ausgeklammert, was an sich in der Auseinandersetzung mit einer so aufgeladenen Begrifflichkeit und angesichts der aktuellen Diskussion zum Thema werden müsste: Wenn ein Begriff die Sphäre einer akademischen Diskussion verlässt und in den öffentlichen Diskurs übergeht, dann erhält er vielfach andere Bewertungen und Schattierungen. Das umso mehr, als mit “politisch” und “Islam” äußerst kontrovers konnotierte Begriffe miteinander verwoben werden und damit die Tendenz, diesen Begriffscluster missverständlich zu interpretieren, geradezu provoziert wird. Der Verdacht, dass dies politisch durchaus gewollt ist, kann selbstredend nicht ausgeklammert werden (Stichwort „Herrschaftsideologie“!). Zwar sollte man diese – oft verschwörungstheoretischen - Interpretationen nicht überstrapazieren (und zum Totschlagargument machen, wie das von Gegnern der Dokumentationsstelle gerne ins Feld geführt wird), wer diese Fragestellung aber nicht berücksichtigt, handelt günstigstenfalls naiv (apropos „Instrumentalisierung“).

Und die Muslimbrüder?

Der Teil über die Muslimbruderschaft speist sich im Wesentlichen aus der englischsprachigen Studie des US-amerikanischen Extremismusforschers Lorenzo Vidino, die bereits 2017 erschienen ist (Lorenzo Vidino, The Muslimbrotherhood in Austria, George Washington University Program on Extremism/Universität Wien, 2017). Wie vielfach schon angemerkt wurde, besteht das Grundproblem dieser Arbeit darin, dass sie primär die vielen Gerüchte, die in verschiedenen österreichischen Medien über die Jahre kolportiert wurden, zitiert, affirmativ aufnimmt und ohne weitere Hintergrundausstattung oder zusätzliche Beweise im Raum stehen lässt. Es fehlt oft an Unterfütterung für die Behauptungen und in vielen Fällen werden zum Teil sehr alte Vorwürfe ohne Abwägung wiederaufgenommen.

Vielfach liegt das allerdings in der Materie begründet. Die Muslimbruderschaft agiert in Europa weitgehend als Geheimgesellschaft, über deren reale Verbreitung wenig Sicheres gesagt werden kann. Deshalb wird in dieser Studie auf Basis eines spezifischen Kriterienkataloges ein Survey „mutmaßlich Bruderschafts-naher Akteure” geboten. Das ist naturgemäß ein äußerst heikeliges Unterfangen, weil damit auf Verdacht und mit pauschalen Behauptungen agiert wird, die nur schwer bewiesen werden können. Es steht damit zumeist Aussage gegen Aussage. Musterbeispiel dafür ist ein nun schon zum Klassiker dieser Diskussion geratener Bezug, der auch in dieser Studie wiederholt wird, nämlich die angeblichen Verbindungen der Muslimischen Jugend Österreich (MJÖ) zur Muslimbruderschaft. Konkrete Beweise, die über das Nachzeichnen diverser Verbindungslinien und eine Art „könnte-hätte-wäre-vielleicht“-Hermeneutik hinausgehen, bleibt auch diese Studie schuldig.

Von einer als wissenschaftlich verstandenen Arbeit hätte man sich mehr Tiefgang in den Details erwartet und ein deutlicheres Abwägen der Positionen beziehungsweise eine gewisse Rücksicht auf Entwicklungen und Veränderungen. Vielfach steht ein Narrativ im Raum, dass von einer tiefgehenden, anfänglich eingeimpften Indoktrinierung ausgeht, die nun schon über Jahrzehnte und bis heute unverändert und in der gleichen Form weitergetragen wird. Ein solcher Zugang, der von gehirngewaschenen, durchideologisierten Sektenrobotern ausgeht, greift viel zu kurz und übersieht die vielfältigen Entwicklungen, die sich angesichts der unterschiedlichen Einflussmomente in so gearteten Gemeinschaften ergeben können. Diese Problematik wird in der vorliegenden Veröffentlichung im Grundsatzpapier durchaus angesprochen und man nimmt sich vor, gerade diesen fehlerhaften Zugang hier zu vermeiden. Doch wird dies gerade im zweiten Teil, in der Konkretisierung am Beispiel der Muslimbruderschaft, nicht erfüllt. Hier bleibt man vielfach bei den sehr pauschalen hölzernen Behauptungen.

So bleibt die Frage nach der tatsächlichen Bedeutung weitgehend unbeantwortet, weil jeweils nur Einzelbeobachtungen zitiert werden, ohne einen größeren Rahmen vorzustellen. Nicht viel mehr bringt übrigens auch, um einen kurzen Exkurs anzuführen, ein Blick in die behördlichen „Anordnungen“, die den Hausdurchsuchungen und Verhören an einigen angeblichen Mitgliedern und  Funktionären der Muslimbruderschaft im November 2020 zugrunde liegen. Was daraus nur sehr deutlich hervorgeht ist, dass man schon länger systematisch allen bereits bekannten Vorwürfen und Gerüchten im Zusammenhang mit der Muslimbruderschaft und ihrem Wirken in Österreich nachgegangen ist und die damit im Zusammenhang genannten Personen einer durchgehenden Überwachung unterzogen hat. Neben der eifrigen Vernetzungs- und Lobbyarbeit und der zum Teil äußerst despektierlichen Sprache, derer sich einzelne (Telephon-)Abgehörte bedienen, kamen dabei vor allem Aspekte des finanziellen Gebarens zu Tage, deren Bezüge auf die angeblichen Tätigkeiten der Muslimbruderschaft allerdings noch einer Klärung harren. Das Nennen großer Geldsummen mag zwar beeindrucken, zentral ist aber, wie die Verwendung markiert war. Man wird überhaupt sehen, welche der Vorwürfe Bestand haben werden, wenn dies alles den langen Weg der juristischen Behandlung geht. Es sei die Vermutung ausgesprochen, dass – wie oft in solchen Fällen - nicht viel übrig bleiben wird.

Und nun?

Zumal sich die Frage stellt, wie gerechtfertigt dieser aktuelle Fokus auf die Muslimbruderschaft überhaupt ist. Die Konzentration auf sie hängt sicherlich mit der Tatsache zusammen, dass sie zum besterfassten Aspekt des Großthemas „Politischer Islam“ gehört, weil sie schon eine lange Vorgeschichte hat und einiges über sie auch auf Behördenebene bekannt war. Deshalb bot sich der Zugriff geradezu an. Doch hat die Muslimbruderschaft in Österreich schon lange nicht mehr diese Bedeutung, die ihr angesichts der staatlichen Aktionen zuerkannt wurde. Das hat viel mit der in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegenen Bedeutung türkisch-nationalistischer Interessensgruppen zu tun, die vermutlich mittelfristig ein Hauptgegenstand der Arbeit der „Dokumentationsstelle“ sein werden. Es gibt also noch viel zu tun. (Franz Winter, 14.1.2021)

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