Neues Jahr, neue Aussichten für Stellungspflichtige: Der Großteil der rund 37.300 Männer des Geburtsjahrganges 2003 wird heuer in den Stellungsstraßen des Bundesheeres noch genauer als bisher unter die Lupe genommen, was ihre physische und psychische Konstitution betrifft. So wollen es Verteidigungsministerin Klaudia Tanner und ihre für den Zivildienst zuständige Regierungskollegin Elisabeth Köstinger (beide ÖVP), um mehr 18-jährige für den Wehr(ersatz)dienst in die Pflicht nehmen zu können.

Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) auf Truppenbesuch im Vorjahr, hier mit "Aufschubpräsenzdienern" wegen der Corona-Pandemie.
Foto: APA / Bundesheer / Lechner

Dazu kommen noch etwa 13.000 Burschen im wehrfähigen Alter, deren Stellung im ersten Corona-Jahr, also 2020, teilweise pandemiebedingt aufgeschoben werden musste – doch für diese Gruppe gelten noch die alten Konditionen, wie das türkise Ministerinnenduo knapp vor der Jahreswende klargestellt hat.

Weil zuletzt wegen geburtenschwacher Jahrgänge und zunehmend geltend gemachter Beeinträchtigungen nur mehr an die 66,5 Prozent der Stellungspflichtigen als "tauglich" eingestuft werden konnten, setzen Tanner, Köstinger und Co nun per Weisung beziehungsweise durch Änderung der Verwaltungsvorschriften die Kriterien für das Einziehen beim Bundesheer beziehungsweise bei den Zivildienstorganisationen herab.

400 Kriterien, viele Fragen

Auf mehr als 400 medizinische Kriterien werden die jungen Männer abgeklopft, rechnet man im Kabinett der Verteidigungsministerin vor, und: Bis zu 2.000 junge Männer mehr sollen so ab März 2021 jährlich für den Dienst am Staat zur Verfügung stehen, etwa 1.200 fürs Militär, rund 800 für den Zivildienst.

Auf Anfrage, welche bisher Untauglichen sich auf einen anderslautenden Bescheid gefasst machen müssen, übermittelte Tanners Büro dem STANDARD einige konkrete Beispiele, wie Ärzte in den Stellungsstraßen nun zu ihren Beurteilungen kommen – auch wenn für jeden einzelnen Stellungspflichtigen freilich individuell entschieden wird, wofür er eingeteilt werden kann – und wofür eben nicht.

Doch demnach schützt einen Übergewichtigen selbst eine hochgradige Adipositas nicht mehr vor dem Wehrdienst: Denn nach den neuen Beurteilungsrichtlinien kann ein solcher Volljähriger künftig zu einer "Kanzleifunktion", "Kraftfahrfunktion" oder "einer Funktion im IT/Cyber-Bereich" eingesetzt werden, heißt es.

Auch ein Marschuntauglicher – etwa wegen einer Zehenamputation – könnte schon demnächst als "Stellungsgehilfe, Kraftfahrer oder Ähnliches" eingezogen werden. Als neue Richtlinie gelte hier, dass die Betreffenden während ihrer Ausbildung zumindest in der Lage sein müssen, 1.600 Meter zu gehen, ohne Vollmontur und Marschgepäck versteht sich, sondern im Sportanzug, um für den Wehrdienst infrage zu kommen.

Publicityträchtig ausgeführt wurde von Ministerin Tanner bereits, dass ein Sportler mit Schulterleiden – etwa durch einen früheren Bruch des rechten Schulterblatts – seinen Wehrdienst ableisten müsse, weil der Betreffende statt am Sturmgewehr ja am Pfefferspray ausgebildet werden könne.

Verfehlte Auffassung

Hintergrund des letzteren Exempels ist, dass der grüne Koalitionspartner und auch die rot-blau-pinke Opposition im Vorfeld des Herumdokterns an den Tauglichkeitskriterien unter anderem ihre verfassungsrechtlichen Bedenken deponiert haben. Denn laut einem weitreichenden Spruch des Verwaltungsgerichtshofs vom 28. November 1989 müssen für den Wehrdienst als fähig befundene Männer eine Waffe bedienen können und auch einem Mindestmaß an physischer Kraftanstrengung unterzogen werden können – auch wenn sie sich für das Ableisten des Zivildiensts entscheiden.

VWGH-89-Teiltauglichkeit.rtf

Größe: 0,41 MB

Das VWGH-Urteil von 1989 im Wortlaut.

Wortwörtlich heißt es in dem Urteil, dass Präsenzdiener zwar zu "systemerhaltenden Funktionen" etwa in Kanzleien oder in der Versorgung herangezogen werden können, allerdings: "Eine Auffassung, daß Personen, die lediglich für solche Funktionen ausgebildet werden können, und die aus diesem Grund nur in solchen Funktionen einsetzbar sind, auch als zum Wehrdienst geeignet anzusehen sind, ist verfehlt."

Doch angesichts solcher "juristischen Spitzfindigkeiten" (Copyright Kanzler Sebastian Kurz) verwiesen die türkisen Ministerinnen prompt darauf, dass auch sie ein aktuelles verfassungsrechtliches Gutachten in petto haben – was die "Tauglichkeit neu" sehr wohl ermögliche. (Nina Weißensteiner, 2.1.2021)