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Eine Schwester bereitet Corona-Impfungen in einer Pflegeeinrichtung vor, begleitet von großem Medieninteresse. Einer aktuellen Umfrage zufolge, wollen sich nur 40 Prozent der Franzosen impfen lassen.

Foto: Reuters / Charles Platiau

Die Bloggerin und ehemalige "Le Monde"-Korrespondentin Joëlle Stolz berichtet im Gastbeitrag, warum das französische Volk impfskeptisch ist.

Die Franzosen misstrauen Impfungen. Bei Covid-19 sind sie besonders zurückhaltend, sich impfen zu lassen. Warum gerade im Land von Louis Pasteur und der Aufklärung, der Heimat des Rationalismus?

Ein Grund ist die Neigung meiner Mitbürger, jegliche Autorität, sei sie politisch oder wissenschaftlich, infrage zu stellen. Man findet besonders viele Impfgegner extrem rechts und ganz links. Der "rebellische" Charakter kann jedoch nicht alles erklären. Es gibt andere Faktoren, die mit Fehlern oder Missgeschicken der Behörden Mitte der 90er-Jahre während der Impfkampagne gegen Hepatitis B und 2009 gegen die Grippe H1N1 zu tun haben. Aber auch mit Megaskandalen im Gesundheitsbereich, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingeprägt haben.

Laut Lucie Guimier, einer Geografin, die auf öffentliche Gesundheit spezialisiert ist, bilden echte Impfgegner, also solche, die Impfungen auch für eigene Kinder ablehnen, höchstens zehn Prozent der Bevölkerung. Es sind vor allem strenge Katholiken. Und radikale Umweltschützer, die Kinderkrankheiten als eine Chance sehen, das Immunsystem zu stärken. Aus diesen Milieus haben sich vor einem Jahrzehnt die höchst ansteckenden Masern verbreitet – in Frankreich laut Guimiers Angaben immerhin 24.000 Fälle und 14 Tote.

Impfpflicht für Kinder

Deswegen hat die erste Gesundheitsministerin nach der Wahl Emmanuel Macrons, Agnès Buzyn, elf Impfungen innerhalb von zwei Jahren, unter anderem gegen Masern, für alle nach dem 1. Jänner 2018 geborenen Kinder zur Pflicht gemacht. Nur dann können sie Kindergarten oder Schule besuchen. In anderen Ländern, wie zum Beispiel Österreich, werden dieselben elf Impfungen nur empfohlen.

Diese Impfpflicht hat einen Teil der Öffentlichkeit verärgert. Ein Protestschreiben, das von einem pensionierten Onkologen, Henri Joyeux, ins Internet gestellt wurde, haben damals 1,1 Millionen Franzosen unterschrieben. Beliebte Schauspielerinnen wie Isabelle Adjani und Sophie Marceau haben ihm ein breites Echo gegeben. Wie die Anthroposophen waren die beiden erstaunt zu erfahren, dass der von der Ärztekammer ausgeschlossene Joyeux ein glühender Katholik und rechtsextremaffin ist.

Die Reaktionen wären nicht so stark gewesen, hätten nicht Skandale das Vertrauen in die Institutionen, die unsere Gesundheit schützen sollen, dauerhaft erschüttert. 1991 hatte nach mehreren Meldungen in der Presse ein Artikel in L’événement du jeudi aufgedeckt: Die Direktoren des Institutes, das ein Monopol auf Blutinfusionen ausübte, hatten jahrelang verhindert, dass Aidstests und Blutprodukte aus den USA in Frankreich erhältlich seien, um die viel weniger sicheren Vorräte des Instituts Pasteur loszuwerden. Und dies mit dem Segen der höchsten Verantwortlichen unseres Staates – vom sozialistischen Premier Laurent Fabius bis zu seiner Sozialministerin Georgina Dufoix. Tausende Blutkranke wurden mit Aids infiziert, darunter auch Kinder.

Der langwierige Prozess (bis 2003) hat auch persönliche finanzielle Interessen bloßgelegt, wie im Fall von Mediator, das bis 2009 verkauft wurde. Das vom Labor Servier hergestellte Medikament wurde drei Jahrzehnte lang gegen Diabetes verschrieben, obwohl es schwere Herzfehler verursachte: wieder etliche Tote. Diesmal kam die Aufdeckung nicht von einer Journalistin, sondern von einer Pneumologin, der Ärztin Irène Frachon. 2016 wurde sie zur Kinoheldin, als ihre Memoiren mit der Dänin Sidse Babett Knudsen in der Hauptrolle (Borgen) verfilmt wurden.

Schrecken Big Pharma

Diese Skandale haben das Schreckgespenst Big Pharma – Industrielle, die kaltblütig und geldgierig sind – noch größer gemacht. Ohne diese wäre es unmöglich, den phänomenalen Erfolg des Films Hold-Up zu verstehen. Die berüchtigte "Dokumentation" – ihr Hauptthema: Die derzeitige Pandemie ist eine Weltverschwörung – wurde von Profis gedreht und zog Millionen Zuschauer an. Sogar Marine Le Pen musste sich von ihren abenteuerlichen Thesen distanzieren. "Ein Protokoll der Weisen von Zion 2.0", kritisiert die linke Internetzeitung Mediapart den kaum verhüllten Antisemitismus eines Films, in dem Bill Gates Big Brother und Big Pharma in einem verkörpert.

Man darf allerdings die "Antivax"-Bewegung nicht auf eine Bande durch soziale Medien manipulierter Analphabeten reduzieren: Das sagt etwa der Abgeordnete Cédric Villani, ein liberaler Geist und exzellenter Mathematiker. Denn schließlich hat sich unser Verhältnis zur Medizin in den letzten 50 Jahren tief verändert. Die Patienten von heute sind besser informiert und besitzen gesetzlich verankerte Rechte. Man fragt sie vor fast jedem medizinischen Handeln nach ihrer Zustimmung. Sie wollen Bürger sein, die man rational überzeugt, statt Untertanen, die man paternalistisch zwingt. Das Misstrauen den Impfungen gegenüber ist die Kehrseite einer "Gesundheitsdemokratie", die wir uns hart errungen haben.

Es ist übrigens kein Zufall, wenn die zwei Länder, in denen es weltweit am meisten Zustimmung für die Impfungen gibt, nämlich Saudi-Arabien und Iran, beide Autokratien sind, ja sogar Theokratien – wo Gott und Staat immer recht haben. Nicht mehr bei uns. Joëlle Stolz (2.1.2021)