Das Annus horribilis etwas wegwalzern: Riccardo Muti.

Nagl

Wer bereits gegen 11.00 Uhr herum wach ist und unentschlossen herumzappt, hat u. a. die TV-Wahl zwischen "Dick und Doof", "Zwei wie Pech und Schwefel" oder "Die Prinzessin auf der Erbse". Natürlich bietet der erste Vormittag 2021 auch "Winnetou II", "Crazy Ex-Girlfriend" und "Gangster für eine Nacht" – zudem selbstredend "Ben Hur". Die Wahrscheinlichkeit, beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker hängenzubleiben, scheint also bei der Auswahl nicht in allerhöchster Gefahr – zumal in diesem seltsamen Jahr.

Findet das spezielle "Philharmonische" zwar im Musikverein nun doch statt, so leider vom Publikum abgeriegelt im leeren Saal. Eine Art stille Premiere, auch wenn an die 90 Länder übertragen. Zwischen Polkas, Walzern und Märschen statt ermunterndem Applaus nur betretenes Schweigen? Nach Franz von Suppés "Fatinitza-Marsch", der herzhaft eröffnet, hat die Applausleere dann jedoch nichts Peinliches, eher etwas Andächtiges.

Versucht das Verbotene

Riccardo Muti blättert an diesem Vormittag zwischen den Stücken gerne einfach um zur nächsten Komposition. Nur einmal versucht er vergeblich das zurzeit hygienisch Verbotene – nämlich dem Konzertmeister die Hand zu schütteln. Ungeplanter, unpeinlicher lustiger Moment.

Ansonsten geht der Neapolitaner, der das Neujahrskonzert zum sechsten Mal leitet, öfters einfach ab, um unter dezentem Klopfapplaus der Musiker wiederzukehren. Auch da keinerlei TV-Beklemmung, und überhaupt: Nach dem malerisch und sensibel interpretierten "Kaiserwalzer" etwa erlangt die anschließende Applausleere durchaus etwas zum Stück Gehörendes. Die Musik wirkt in der Stille regelrecht nach.

Keine Grabesstimmung

Der leere Saal wiederum, den die Kameras nicht verstecken, wird parallel zum diskreten Zeichen, dass etwas fehlt, ohne dass Grabesstimmung aufkommt. Die TV-Konzert-Dramaturgie tut also nicht so, als wäre alles im Lot, wodurch alles dann doch gedämpft stimmig rüberkommt.

Auch Muti versucht nicht, durch besonderes gestisches Theater die spezielle Situation zu beschönigen. Der seriöse und genaue Musiker, der mit den Philharmonikern seit nunmehr 50 Jahren arbeitet, trifft somit nicht nur musikalisch gediegen den speziellen Tonfall zwischen stürmisch-ausgelassen und wehmütig-entrückt.

Auch äußerlich wirkt er am Punkt: Gerne lässt er die Philharmoniker allein spielen, gibt dann aber umso präziser musikalische Rufzeichen "in Auftrag". Besonders beim finalen "Radetzky-Marsch" zeigt sich dieser Kontrast zwischen "laufen lassen" und effizientem Eingreifen. Und endlich hört man das Stück auch ungestört, weil es ohne Applaus auskommen muss (wie einst natürlich aus anderen Gründen bei Nikolaus Harnoncourt).

Mit Wehmut gewürzt

Da sind weitere besondere Momente: Sie sind bei Strauß' (Sohn) stürmischer Niko-Polka, die mit unterschwelliger Wehmut gewürzt wurde, zu finden. Ein Höhepunkt ist zudem die Polka française "Im Krapfenwald’l": Gelassen tänzelt dieses lustig-traurige Stück (mit dem Gezwitscher und der Kuckuck-Simulation) einher. Und wenn der Maestro bei Carl Millöckers Galopp "In Saus und Braus" ein bisschen ins Hüpfen kommt, wirkt diese Regung keinesfalls gekünstelt.

Die wahre Neuheit

Nach diesem letzten Stück vor der Pause die eigentliche Uraufführung: Die Musiker und Musikerinnen empfangen den Applaus jener circa 7000 Menschen, die sich weltweit online angemeldet haben und deren Fotos collageartig am Bildschirm erscheinen. Unter ihnen soll auch, wie Moderatorin Barbara Rett erzählt, António Guterres sein, der UN-Generalsekretär. Selbiger wird dann wohl Mutis Worte vernommen haben: Er spricht am Schluss vom "Annus horribilis" und appelliert an die Politik, neben der körperlichen Unversehrtheit (aller) auch auf das geistige Wohlergehen (aller) zu achten. In diesem Sinne sei die "Kultur als Priorität" zu behandeln. Es sprach zuvor auch Geiger und Philharmoniker-Vorstand Daniel Froschauer von diesem Konzert als "Zeichen des Optimismus".

Der Musikverein

Zur Kultur gehört natürlich auch die Innenausstattung des Goldenen Saals im Wiener Musikverein. Die Kameras geben sich an diesem Vormittag denn auch große Mühe, nebst der Saalleere auch die goldenen Wandverzierungen und die Deckengemälde zu präsentieren.

Natürlich: Weder der Blumenschmuck noch die Balletteinlagen konnten den Eindruck zum Verschwinden bringen, dass im und außerhalb des Musikvereins besondere Weltverhältnisse herrschen. Gut so. Es passt ja auch keine Musik besser zur Weltlage als jene des Strauß-Kosmos. Interpretatorisch tief verstanden wie bei Muti, spiegelt diese Musik emotionale Ambivalenz an sich wider.

2022 wird sie beim Neujahrskonzert Dirigent Daniel Barenboim hervorlocken – hoffentlich aber nach dem Ende der neuen Normalität. (Ljubisa Tosic, 1.1.2021)