"Leave"! Was für die EU galt, soll für Schottland keinesfalls gelten. Jedenfalls, wenn es nach dem Willen des britischen Premiers Boris Johnson geht. Ganz einfach durchzusetzen wird das für ihn nicht.

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Dass Boris Johnson in seiner Neujahrsansprache Großbritanniens endgültigen Abschied aus dem größten Binnenmarkt der Welt bejubeln würde, war abzusehen. Sein Land werde manches "anders und, falls nötig, besser machen als unsere Freunde in der EU", teilte der Premierminister mit.

Auffällig häufig aber betonte der Konservative die Zusammengehörigkeit des Vereinigten Königreichs. Der Grund liegt auf der Hand: 2021 steht der Londoner Zentralregierung ein heftiger Kampf mit den Werbern für Schottlands Unabhängigkeit ins Haus. Schon verspricht die Edinburgher Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon an die Adresse Europas gewandt, ihr Land "werde bald zurückkommen" – als eigenständige Nation.

"Zusammenhalten" – aber nur innerhalb Schottlands

In ihrer eigenen Ansprache zum neuen Jahr gab sich die Regionalregierungschefin betont staatsfraulich, lobte den großen Einsatz von medizinischem Personal und Freiwilligen im Kampf gegen Sars-CoV-2 und appellierte an die Zuschauer: "Wir sollten zusammenbleiben." Dass damit ausschließlich die Bewohner ihrer "stolzen Nation" gemeint waren, verdeutlichte die Chefin der Nationalpartei SNP später auf Twitter. Ihr Land werde "gegen seinen Willen" aus der EU gerissen, schrieb Sturgeon und kontrastierte Schottland mit dem internationalen Einfluss des vergleichbar großen Nachbarn Irland. Die grüne Insel gehört vom Neujahrstag für zwei Jahre dem UN-Sicherheitsrat an.

Den Schotten steht Anfang Mai die Neuwahl ihres Regionalparlaments ins Haus. Allen Umfragen zufolge kann sich die SNP auf einen klaren Wahlsieg freuen; möglich scheint sogar die absolute Mehrheit, die Sturgeons Vorgänger Alex Salmond 2011 schon einmal herausgeholt hatte. Da auch die Grünen eine zweite Volksabstimmung über die Unabhängigkeit befürworten, gibt es kaum einen Zweifel daran, dass sich eine klare Mehrheit der Abgeordneten hinter dieser Forderung versammeln wird.

Deutliche Mehrheiten

Im Wahlvolk besteht die Mehrheit den Umfragen zufolge ohnehin. 2014 hatten sich die Schotten noch mit 55:45 Prozent für den Verbleib in der 1707 mit England geschlossenen Union entschieden. Das Brexit-Votum des viel größeren Nachbarn im Süden – Schottland selbst wollte mit 62:38 Prozent in der EU bleiben – brachte dann ein jahrelanges Umfragepatt mit sich. 2020 aber neigte sich die Waagschale dauerhaft in Richtung Eigenständigkeit. Inzwischen sprechen sich kontinuierlich 55 Prozent der Schotten, gelegentlich sogar 58 Prozent für die Rückkehr zur staatlichen Unabhängigkeit aus.

Den mutmaßlich wichtigsten Grund für den Sinneswandel der entscheidenden Wechselwähler benannte auf der Brexit-Sondersitzung des Unterhauses am Mittwoch die SNP-Sprecherin für Verfassungsfragen. Sie wolle sich heute doch mal ausdrücklich beim Premierminister bedanken, höhnte Kirsty Blackman. "Er hat mehr für die schottische Unabhängigkeit getan als jeder andere Unionspolitiker." Tatsächlich gilt Boris Johnson im britischen Norden als unzuverlässig, ungeeignet und uninteressiert an schottischen Belangen, wie der bekannte Wahlforscher Professor John Curtice von der Glasgower Strathclyde-Universität konstatiert.

Ein guter Moment für die Unabhängigkeit

Insbesondere der Londoner Schlingerkurs gegen Covid-19 hat bei den Schotten denkbar schlechtesten Eindruck hinterlassen. Zwar sind die eigenen Infektions- und Todesraten nur geringfügig besser; Sturgeon aber hat es mit kluger und offener Kommunikation geschafft, als vergleichsweise viel kompetenter dazustehen. Wenn sich dies ändere, könnte sich auch die Einstellung zur Unabhängigkeit wieder ändern, glaubt Curtice. Genauso gelte dies für den Fall, dass in London ein anderer Konservativer die Macht übernimmt.

So abwegig dies nach Johnsons Brexit-Triumph erscheinen mag – entsprechende Gerüchte geistern seit Monaten durchs Regierungsviertel Whitehall. Dem 56-jährigen Vater des acht Monate alten Wilfred mache das mühsame Regieren keinen großen Spaß, zudem habe seine schwere Covid-Erkrankung mit mehrtägigem Aufenthalt auf der Intensivstation ihre Spuren hinterlassen, hieß es im Herbst immer wieder. Angeblich gut informierte Kreise klagten gegenüber der "Times" sogar, der Premierminister sei schlecht bezahlt.

Ob die Verwirklichung des Brexit-Traums sowie die Neuorganisation der Downing Street nach dem Weggang des giftspritzenden Chefberaters Dominic Cummings neuen Schwung bringt? Eifrig schwärmte Johnson in seiner Ansprache von Großbritannien als "Wissenschafts-Supermacht", freute sich über die mittlerweile mehr als eine Million Covid-Geimpften, verwies auf die diesjährige G7-Leitung seines Landes und die Ende 2021 anstehende Klimakonferenz in Glasgow. Auf der internationalen Bühne könne sein Land Großes leisten, beteuerte der Premierminister. Der schwierigste Kampf aber dürfte Johnson im Ringen um die Einheit des Landes bevorstehen. (Sebastian Borger aus London, 1.1.2021)