Corona und islamistischer Terror haben Österreich im Griff, und beides wird Abschottung und provinzielle Neigungen verstärken. Wir leben zwar in einer Ära der Globalisierung, aber die Sehnsucht nach Geborgenheit in regionalen Strukturen wächst, wenn äußere Gefährdungen zunehmen. Leider hält das Wissen über die nähere und nicht ganz so nahe Umgebung nicht Schritt mit der sehnsuchtsvollen Zuwendung. Im Gegenteil: Im Lauf der Zeit ging viel Wissen verloren. So war es der Generation meiner Großeltern vorbehalten, gut über den Raum der Donaumonarchie informiert zu sein. Ich verdanke viele Erzählungen meinem Großvater und meinen Großonkeln, die alle im Baufach in der Monarchie tätig waren und mehr wussten als wir heute. Solche Verluste an Erfahrung bedeuten eine dramatische Schmälerung von Ressourcen, welche zur Bewältigung einer turbulenten Gegenwart nötig sind.

"Das Zusammenleben war zwar nie einfach, aber in 'Perioden vitaler Vielfalt' wurden die eigentlichen Grundlagen Europas geschaffen."
Foto: Mandelbaum Verlag

Für die Nach-Corona-Zeit brauchen wir Positionsbestimmungen für Österreich und Europa. Was man über Europas Identität in der Globalisierung lernen kann, hat kürzlich der Wiener Essayist Christian Reder in dem brillanten Buch "Mediterrane Urbanität – Perioden vitaler Vielfalt als Grundlagen Europas" dargelegt, welches als Gegenmittel gegen Unwissen und Verkapselung nachdrücklich empfohlen sei. Reder hat sich als Professor für Kunst- und Wissenstransfer an der Hochschule für angewandte Kunst lange in Europas Grenzräumen aufgehalten, und so ist sein Europaverständnis eines, das konsequent die von Europa nicht zu trennende Nachbarschaft einbezieht.

Vitale Vielfalt

Mit seiner These einer "mediterranen Urbanität" zeigt Reder auf, was oft behauptet, aber selten so dicht dargestellt wird: dass "Europa" nur inklusiv und als Kontinent der Vielfalt zu denken ist, wie sie vorab im urbanen Umfeld realisiert wurde. Anhand einer materialreichen Darstellung von zwanzig Mittelmeermetropolen und deren Verbindungen, von Algier über Marseille, Venedig, Triest, Dubrovnik bis Tel Aviv-Jaffa, stellt er dar, dass das Zusammenleben zwar nie einfach war, aber dass in "Perioden vitaler Vielfalt" (solche mutwilliger Destruktion gab es natürlich auch) die eigentlichen Grundlagen Europas geschaffen wurden. Transfer, Austausch, Auseinander setzung mit dem Fremden sind die Stichworte: Palermo, Inbegriff eines weltoffenen "großen Hafens", ist für Bürgermeister Leoluca Orlando eine "Migrantenstadt". Odessa wurde 1794 explizit als Hafenstadt für Fremde gegründet. Städte wie Barcelona, Neapel oder Venedig kannten allesamt lange Phasen eines geglückten Kosmopolitismus. Solche Fakten, die von offenem Zugang und präziser Kenntnis zeugen, bietet Reder sonder Zahl. Dahinter steht eine Lebenserfahrung, die unabdingbar ist, um Nachbarschaft zu leben. Sie wäre Voraussetzung für die Einfühlung in die Lage der anderen, welche auf unsere zurückwirkt.

Reders Opus wäre auch Anlass zu überprüfen, ob der Unterricht an den Höheren Schulen ein gesamthaftes Verständnis fördert. Österreich hat aus Grenzzäunen und Mauern oft den Schluss gezogen, vom Nachbarn nichts wissen zu wollen. Gerade das wäre aber weit relevanter, als ob auf irgendeiner europäischen Ampel eine Region auf Rot steht. Von Reder ist zu hoffen, dass er seine Arbeit fortführt. Intellektuelle wie er, die den Blick für unsere Position in der Welt schärfen, werden dringender gebraucht denn je. (Erhard Busek, 3.1.2021)