Wes Anderson gehört zu den Regisseuren, die man in Rekordgeschwindigkeit erkennt. Seine pastellfarbenen, in einem völlig eigenen Raum-Zeit-Kontinuum angesiedelten Welten, in denen die Architekturen und die Interieurs ein Eigenleben zu führen scheinen und die bevölkert sind von skurrilen Gestalten, sind einzigartig. Auch der Blick auf diese Welten ist ein durch und durch eigener, jedes Bild liebevoll kadriert wie ein tragikomisches Gemälde und, still oder in Bewegung, durchzogen von Symmetrien. Keine Minute lang muss einer seiner Filme laufen, und man weiß: Das ist ein Anderson, seine Bilder sprechen.

Anderson ist ein moderner Märchenerzähler, der nebenbei Popstartum, bildende Kunst und kindliches Augenzwinkern zusammenbringt. Jedenfalls scheinen seine Welten so inspirierend zu wirken, dass sie ohne sein Zutun expandieren.

Die Anmutung des Irrealen, ...

So hat etwa eine britische Firma vor nicht allzu langer Zeit eine Tapetenkollektion auf den Markt gebracht, die von Andersons Optik inspiriert ist. Zudem ist mit Accidentally Wes Anderson ein Buch erschienen, das den Stil des Regisseurs gleichsam fortführt und ihm auch huldigt.

Spezielle Story

"Ich verstehe jetzt, was es heißt, zufällig ich zu sein", schreibt Anderson im Vorwort zu dem Reiseführer, dessen Story selbst aus einem seiner Filme stammen könnte. Die Geschichte geht so: Inspiriert von Fotoaufnahmen von Orten, die aus Andersons Filmen stammen könnten, starten Wally Koval und seine Frau 2017 ein Reiseprojekt, um die Orte und ihre Geschichten ausfindig zu machen.

Aus dieser Idee wachsen eine Community und das Instagram-Profil @AccidentallyWesAnderson, dem mittlerweile über eine Million Menschen folgen. Die besten Bilder – jeder kann über die Website Fotos einreichen – wiederum münden in den gleichnamigen Reiseführer, dessen Front das am Schweizer Furkapass gelegene Hotel Belvédére schmückt, als sei es der kleine Bruder von Andersons Grand Budapest Hotel.

Das Buch, das zu Beginn ein "Abenteuer" verspricht, endet mit einem Dank an den "Mitarbeiter des Monats", Kovals Collie Dexter, den "süßesten Assistenten". Darunter: Dexter in einem hölzernen Bilderrahmen samt Pullover und Krawatte. Da macht also jemand etwas, das aussieht wie etwas von jemand anderem. Und Letzterer adelt das Ganze noch mit einem Vorwort.

Klingt verrückt

Das klingt auf Anderson-Art verrückt und ist zugleich ein Beleg für den formalästhetischen Eigensinn des Regisseurs. Manche Fotos in dem Buch referenzieren ganz unmittelbar auf filmische Verwandte – neben dem Belvédére und weiteren Hotels sind da Innenaufnahmen aus Zügen, die an den Film Darjeeling Limited denken lassen, oder diverse Leuchttürme, die an Moonrise Kingdom erinnern.

... Symmetrie und Farbenpracht ...
Foto: 2020 Accidentally Wes Anderson

Natürlich kann der nörgelige Kulturpessimist einwerfen, dass hier eine künstlerische Handschrift zu einer Marke gemacht und in ein Produkt gegossen wird. Klar, das mag die eine Seite der Medaille sein, aber das liebevoll konzipierte Buch ist mehr als das: Einerseits zeitloses Zeitgeistphänomen, ist es doch das Ergebnis eines produktiven Medientransfers von Film zu Social-Media-Plattform zu Druckwerk. Und andererseits berühren sich darin Fiktion und Wirklichkeit nach dem Motto: Wes Andersons Spirit ist überall, es kommt lediglich auf die Perspektive an. Accidentally Wes Anderson ist damit auch eine augenzwinkernde Reflexion darüber, wie wir die Welt sehen – beziehungsweise wie wir sie sehen könnten.

Es bedeutet Regenbogen

So hangelt sich der Reiseführer in verträumten Farben und symmetrischen Kompositionen durch Orte und ihre Geschichten rund um den Globus. Da sind die rosafarbene Zentrale Feuerwache in Marfa, Texas, ein von Anderson gleich im Vorwort gehuldigter hölzerner Pfannkuchenstand im kroatischen Nationalpark in Krka oder der bunte, 43.000 Bewohner fassende Hongkonger Megawohnkomplex Choi Hung, was so viel bedeutet wie Regenbogen.

...kennzeichnen die Fotografien auf den Spuren der Ästhetik des Filmregisseurs Wes Anderson.
Foto: Accidentally Wes Anderson

In Köln zieht sich die über den Rhein erstreckende Seilbahn diagonal durchs Bild, eine einsame Gondel hängt vor blauem Himmel, der am unteren Bildrand von den Spitzen des Doms gekitzelt wird.

Mit seinen skurrilen Details ist Accidentally Wes Anderson ein unterhaltsames Kompendium, das in doppelter Hinsicht Lust macht: auf den nächsten Anderson-Film, in dem Bill Murray dann vielleicht unter dem Ölgemälde von Madame Sachers Bulldoggen im Hauptspeisesaal des Hotel Sacher diniert. Oder es weckt den "Appetit" auf ein neues Morgen – das Fernweh war ja selten größer als in diesen seltsamen Zeiten. (Jens Balkenborg, 4.1.2021)