Regalmeter allein zählen in Büchereien wie der Stadtbibliothek Dornbirn schon lange nicht mehr. Als Orte, wo Status keine Rolle spielt, erfüllen sie zunehmend soziale Funktionen. Österreich hinkt politisch hinterher.

Foto: Dietrich | Untertrifaller Architekten, Albrecht I. Schnabel

Die Mafia hat den Wienern durch die Pandemie geholfen, wenn es nach der Statistik der städtischen Büchereien Wien geht. Genauer gesagt Thomas Stipsits' Kopftuchmafia. Sie steht an der Spitze der 2020 meistausgeborgten Bücher – was von Corona allerdings erschwert wurde. Denn wie alle anderen Horte der Kultur sind auch die heimischen Büchereien und Bibliotheken seit Monaten mit großen Einschränkungen konfrontiert. Doch anders als Theaterdirektoren und Museumschefs, die öffentlich vorrechnen, wie hoch ihre Einnahmenverluste wegen Corona aus fallen, haben sich Büchereichefs bisher kaum zu den Auswirkungen der Pandemie geäußert. Wie kommen sie mit der Situation zurecht?

Fragt man Christian Jahl, den Leiter der Stadt Wien Büchereien, war der wirtschaftliche Schaden bisher auch ohne Rettungspaket zu bewältigen. Dafür verantwortlich ist nicht zuletzt der niedrige Eigendeckungsgrad weit unter dem der Theater und Museen von lediglich zehn Prozent. Dieser ist politisch gewollt, betont Jahl, um mit günstigen Tarifen möglichst viele zu erreichen. Das funktioniert. 175.000 Nutzer waren es 2019. 2020 waren es wegen Corona nur etwa 62 Prozent davon.

Cool, nicht nur Bücher!

Tatsächlich macht die wochenlang beeinträchtigte Entlehnung aber nur einen Teil des Besucher minus aus. Denn ein Gutteil der Menschen kommt nicht mehr in Büchereien, um etwas auszuleihen, sondern, um sich vor Ort zu treffen, zu plaudern, zu arbeiten, zu lernen. Bis zur pandemiebedingten Sperre der Gruppenräume in der Wiener Hauptbücherei wurde einer von syrischen Mädchen zum Deutschlernen genutzt, ein anderer von einem Mathematikkurs der Caritas.

Jahl ist seit 1984 im Geschäft und weiß: Das war vor 20 Jahren anders.

Gefüllte Regalkilometer haben angesichts der Digitalisierung rapide an Bedeutung verloren. Jahl spricht von "sozialer Kohäsion" und "zivilgesellschaftlichem Engagement", wenn er beschreibt, was zwischen seinen Regalen geschieht. Er spricht von einem "dritten Ort" neben Wohnen und Arbeit, ohne Konsum- und Teilnahmezwang. Solche Räume für kooperative Projekte und Diskussion werden künftig noch stärker Aufgabe der Büchereien, ist er sicher. Ebenso die Bereitstellung von Expertenwissen.

Probleme der Gesetzlosen

Auch wenn die heimischen Bibliothekare sich engagieren – Österreich hinkt hinterher. In anderen Ländern sind Büchereien als soziale Infrastruktur viel stärker verankert. So erhob eine Umfrage vergangenes Jahr für die USA, dass der Aufenthalt in Bibliotheken mit 10,5 Besuchen pro Jahr die beliebteste Freizeitaktivität vor Kino, Sportevents und Museen darstellt. Ein anderer Indikator ist, wie viel Bibliotheksfläche in einem Land pro 1000 Einwohner zur Verfügung steht: In Finnland sind es 96 Quadratmeter, in Österreich bloß 16.

Das Problem dahinter ist strukturell. Zwar sind in den vergangenen Jahren auch hierzulande spektakuläre Neu- und Umbauten wie die Dornbirner Stadtbibliothek (Christian Schmölz und Büro Dietrich Untertrifaller, 2019) entstanden, und gemäß den neuen Anforderungen wurden die Flächen für Regale zugunsten jener für Arbeitsplätze und soziale Zonen jedes Mal geringer. In Wien wurde 2019 auch umgebaut.

Die flächendeckende Versorgung lässt aber zu wünschen übrig. Denn ein Bibliotheksgesetz gibt es in Österreich nicht. Gemeinden sind nicht verpflichtet, Büchereien zu betreiben. Der Dornbirner Bau wurde von der örtlichen Sparkasse gesponsert. Immerhin ist im aktuellen Regierungsprogramm ein Masterplan zur "flächendeckenden Grundversorgung" vorgesehen. Jahl hofft, dass er heuer angepackt wird. Darin sollte auch festgeschrieben werden, welche Leistungen erbracht werden sollen, welche Finanzmittel für den Betrieb nötig sind und wer dafür aufkommt, sagt er. Denn derzeit sind die Aufwendungen der Bundesländer sehr unterschiedlich. Wien liegt 13,11 Euro je Einwohner vor Salzburg und Vorarlberg; Burgenland, Kärnten und Niederösterreich kommen auf weniger als ein Drittel.

Alle dafür, aber wenige Mitglieder

Es finden also Verschiebungen statt, die sich in schwankenden Statistiken des Büchereiverbands niederschlagen. Dort ist die Zahl der Nutzer von 2014 bis 2019 österreichweit nämlich um 2,4 Prozent von 846.283 auf 811.958 zurückgegangen. Das passt zu einer Umfrage von letztem Oktober, die ergab, dass zwar fast drei Viertel der Österreicher Bibliotheken als Kultur- und Bildungseinrichtungen für unverzichtbar halten, jedoch nur jeder sechste über einen Mitgliedsausweis verfügt. Ein Viertel hegte Bedenken wegen des Hygienezustands der Bände, die durch viele Hände gehen.

Andererseits stieg im selben Zeitraum von 2014 bis 2019 die Zahl der Besuche von 10.053.019 kontinuierlich auf 10.526.426 (plus 4,5 Prozent).

Ein Ausbau virtueller Angebote (Streams, Zeitungen) auch in den Bundesländern hat zuletzt aber die Nutzerzahlen wieder steigen lassen. Heißt das, dass E-Books bald die physischen Bücher ablösen werden? Nein. Ihr Anteil am Bestand beträgt in Wien etwa fünf Prozent (das ist genauso hoch wie ihr Anteil im Handel), und ihre Nutzung ist rechtlich derzeit kompliziert. Denn viele Verlage verkaufen die Rechte an ihnen erst spät oder gar nicht an Bibliotheken. Das erinnert Jahl etwas an die vergangene Zeit, als alteingesessene Buchhändler Büchereien noch als Konkurrenz um Kunden sahen.

Keine Konkurrenten

Inzwischen ist aber bekannt, dass man Leser eher heranzieht. Die meisten Nutzer in Wien sind weiblich, die größte Nutzergruppe unter 30. Man erreicht so aktuell neun Prozent der Bevölkerung. Bis 2030 will Jahl das auf 15 Prozent steigern. Damit das klappt, muss es noch mehr Partizipation geben, glaubt er. In Skandinavien beginnt das damit, dass bei der Planung eines Standortes Bürger in den Prozess einbezogen werden, und endet bei für die Bevölkerung repräsentativ zusammengestellten Büchereibeiräten: vom türkischen Mädchen bis zur Jungfamilie mit klammer Kasse. "Die wichtigste Aufgabe ist, dass man Menschen unterstützt", ist Jahl sicher. Die nun so beliebte Frage nach der "Systemrelevanz" kann man angesichts dessen gern stellen. (Michael Wurmitzer, 4.1.2021)