Der älteste bekannte Hirschschädel mit Geweih (und beeindruckenden Hauern): der Kopfschmuck ist einfach gegabelt, hat keine Rose und sitzt auf einem langen Rosenstock, der direkt über den Augen aus dem Schädeldach wuchs.
Foto: E.-M. Natzer/SNSB-BSPG

Das Regenerationsvermögen von Hirschmännchen ist erstaunlich: Regelmäßig, in den gemäßigten Breiten sogar jedes Jahr, werfen sie ihr vollständiges Geweih ab und bilden während der darauffolgenden Monate ein komplett neues, häufig noch größeres Geweih. Gesteuert wird dieser Zyklus von Hormonen, die wiederum unter dem Einfluss der täglichen Menge der Lichteinstrahlung stehen und damit auch vom geographischen Breitengrad ihrer Lebensräume. Ein Geweih besteht im Wesentlichen aus Knochengewebe und wächst aus den sogenannten "Rosenstöcken" auf der Stirn der Hirsche.

Energieaufwändiger Wechsel

Der regelmäßige Abwurf und vor allem die anschließende Neubildung der Geweihe ist für Hirsche ein energetisch enorm aufwändiger Prozess, der nach biologischen Prinzipien nicht wirklich zu erklären war. Daher vermuteten Wissenschafter bisher einen selektiven Vorteil darin, wenn Hirsche zeitweise Geweih-frei sind bevor unter hohem Energieaufwand das nächste Geweih für die Brunft regeneriert werden muss. Nun aber liefert eine Untersuchung Belege dafür, dass die Hirsche von Anfang an mit dem periodischen Geweihabwurf leben mussten und ihre Evolutionsgeschichte ständig dem Dilemma von einerseits physiologischen Kosten und andererseits Fortpflanzungserfolg unterworfen war.

Ein deutsch-schweizerisches Paläontologen-Team um Gertrud Rößner, Kuratorin für fossile Säugetiere an der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie (SNSB-BSPG), hat in einer umfassenden Vergleichsstudie im Fachjournal "The Science of Nature" die frühe Evolutionsgeschichte des Geweihzyklus bei Hirschen erforscht. Das Ergebnis ihrer Analysen hat die Wissenschafter überrascht: Prozesse und Mechanismen von Abwurf und Neubildung im Geweihzyklus verliefen offenbar schon bei den frühesten Hirscharten vor 18 Millionen Jahren genauso wie bei heutigen Arten.

Frühes Geweih von Lagomeryx parvulus ohne Rose und mit Kronenform auf einem langen Rosenstock.
Foto: M. Schellenberger/SNSB-BSPG

Vergleich zwischen alt und modern

Um die Entstehung dieses Kreislaufs besser zu verstehen, analysierten die Forscher die Geweihe von 34 rund 12 bis 18 Millionen Jahre alten Hirschfossilien aus dem frühen und mittleren Miozän von Europa. Unter den Fossilien befanden sich auch die bisher ältesten bekannten Geweihe aus dem frühen Miozän von Procervulus praelucidus (Bayern, Deutschland), Ligeromeryx praestans (Loir-et-Cher, Frankreich) und Acteocemas infans (Loiret, Frankreich). Die Forscher untersuchten hierfür viele Details des Knochengewebes wie beispielsweise Wachstumsmuster, Umbauprozesse und Auflösungserscheinungen mittels Mikro-Computertomographie und Dünnschliffmikroskopie. Anschließend verglichen Rößner und ihre Kollegen die gewonnenen Daten mit Geweihgeweben moderner Hirsche.

"Unsere Vergleiche geben einen detaillierten Einblick in die frühe Evolution der Geweihbildung. Aufbau und Struktur der fossilen Geweihgewebe waren denen heute lebender Hirsche verblüffend ähnlich", so Rößner. Bisher sei man davon ausgegangen, dass sich der Geweihzyklus, wie er von heutigen Hirschen bekannt ist, in einem allmählichen Evolutionsprozess ausgehend von ursprünglich nicht abwerfbaren Geweihen und mit Übergangsstadien von ausnahmsweisen bis gelegentlichen Abwürfen entwickelt hat. "Unsere Ergebnisse zeigen nun aber das Bild, eines Mechanismus, der seit Evolutionsursprung der Hirsche grundlegend ist," meint die Paläontologin. (red, 4.1.2021)