Das neue Jahr beginnt im Straflandesgericht Wien mit einer viele Jahre zurückliegenden Geschichte.

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Wien – Gottes getreideverarbeitende Betriebe mahlen dem Volksmund nach langsam, aber gerecht. Auch die Justiz vergisst nicht, daher muss sich Gerhard F. vor Richter Christian Noe für Dinge verantworten, die er vor fast 13 Jahre getan hat – in einem anderen, schlechteren Leben. Das Gerichtsverfahren zeigt exemplarisch, welche Auswirkungen Alkoholabhängigkeit haben kann.

Immer wieder kämpft der 62-jährige F. mit den Tränen, wenn er Noe seine Geschichte erzählt. "2006 habe ich mein Geschäft wegen dem Alkohol verloren, ich war immer selbstständig", sagt der Pensionist. Er trank immer mehr, unter anderem in einem Lokal namens Auszeit. Wo er im April 2008 zwei Menschen verletzte.

"Alkoholkranke und Spielsüchtige"

"Dort haben sich großteils Alkoholkranke und Spielsüchtige aufgehalten", erinnert sich der Unbescholtene. Eine davon war Frau Anneliese, die aus unbekannten Gründen F. nicht sonderlich leiden konnte. "Die Frau hat mich immer wieder provoziert, wenn sie mich gesehen hat", beschwert der Angeklagte sich. Sie soll in dem Grätzl den Spitznamen "Das tapfere Schneiderlein" gehabt haben, da sie sich gerne mit anderen anlegte.

Soweit sich F. noch erinnern kann, habe die Frau ihn auch damals beleidigt. Worauf er ihr Bierglas nahm und den Inhalt über Frau Annelieses Kopf schüttete. "Es war eine komplette Überreaktion", gibt er zu. "Es ist dann zu einem Gerangel gekommen. Da hat sich der andere Herr eingemischt. Das hätte er nicht machen sollen." Dieser angesprochene Herr erlitt damals einen Bänderriss im Daumen, ist mittlerweile aber verstorben. Die Frau zog sich bei der Auseinandersetzung Prellungen zu.

Seit fast acht Jahren trocken

An die Details und den genauen zeitlichen Ablauf kann der Angeklagte sich heute nicht mehr erinnern. "Weil es so lange her ist, oder ... ?", fragt Richter Noe. "Es ist sehr lange her, und dazumals war ich wirklich ..." – F. sucht nach Worten – "die Alkoholkrankheit." Wichtig ist ihm, dem Gericht ein Schreiben vorlegen zu können. Dessen Inhalt: Der Angeklagte befindet sich seit März 2013 in regelmäßiger therapeutischer Behandlung gegen seine Alkoholsucht und hält auch die Prüftermine, ob er wirklich trocken ist, ein.

Den Staatsanwalt interessiert etwas anderes: "Was war in der Zwischenzeit? Wieso waren Sie nicht auffindbar? Waren Sie nicht in Österreich?" – "Doch, aber nachdem ich alles verloren habe, war ich nie wo gemeldet. Ich habe bei meiner damaligen Freundin gewohnt. Die Caritas hat mir dann geholfen. Da habe ich wieder einen Weg zurück gefunden. Einen schwierigen. Ich habe keine Bekannten mehr. Nur noch zwei Freunde, die mir ein wenig helfen", schildert F. und muss dabei wieder die Tränen zurückhalten.

Verletzte zieht Antrag zurück

"Na ja, aber Sie sind dem Gerichtstermin bewusst ausgewichen, oder?", wirft der Richter ein. "Vor diesem Termin habe ich immer Angst gehabt", gibt der Angeklagte zu. Zu Unrecht, wie sich herausstellt. Noe verliest ein Schreiben von Frau Anneliese, dass sie ihre Schmerzensgeldforderung zurückzieht. "Es ist lange her, und sie will mit der Sache nichts mehr zu tun haben", zitiert der Richter. Der dem ohne Verteidiger erschienenen F. dann das Wesen einer Diversion erklärt – wenn er 150 Euro Pauschalkosten zahlt, wird das Verfahren vorläufig eingestellt, und es gibt keine Vorstrafe. "Können Sie sich die 150 Euro leisten?", vergewissert Noe sich. "Ja", antwortet der Angeklagte und bedankt sich erleichtert. (Michael Möseneder, 4.1.2021)