Aufgewachsen auf einem Biobauernhof, zog es Philosophin Eva von Redecker aus der Stadt zurück aufs Land.

Foto: Paula Winkler

Als im vergangenen Frühjahr das Coronavirus dazu führte, dass große Teile des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens auf Pause gesetzt werden mussten, da geisterten für eine Weile auch Revolutionsideen durch die Debatten. Die Unterbrechung könnte die Menschen auf den Gedanken bringen, dass alles auch ganz anders sein könnte – langsamer, schonender, kreativer.

Die junge deutsche Philosophin Eva von Redecker saß damals gerade an einem Buch, das genau zu diesem Moment passte: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen (Fischer-Verlag, 2020) liefert eine Begründung, warum das derzeitige System vor allem mit seinem Eigentumsbegriff zerstörerisch ist, und skizziert Möglichkeiten eines Umbruchs ohne Gewalt, sondern durch Freilegung von zu kurz gekommenen Dimensionen des Lebens. Als Angehörige einer Kommune in Brandenburg ist Eva von Redecker auch ganz praktisch in diese Erkundungen eingebunden.

STANDARD: Ihr Buch hat nach Erscheinen im Herbst große Aufmerksamkeit bekommen. Auf welche Protestformen beziehen Sie sich denn?

Von Redecker: Zum Teil sind es einfach neue Gruppen wie Fridays for Future, bei denen ich wahrnehme, dass sie das Leben selbst politisieren, noch vor Fragen von Umverteilung oder Bürgerrechten. Das Motiv des Lebens taucht in kleineren Mobilisierungen auf, aber auch in einer großen Bewegung wie der antirassistischen Black Lives Matter. An vielen Orten mobilisieren Menschen gegen einen sozialen oder politischen Tod.

STANDARD: Woher kommt die Lebensgefahr?

Von Redecker: Ich glaube, es gibt eine neue Erfahrung des entfesselten, aus der Systemkonkurrenz befreiten Kapitalismus und merkliche Änderungen durch die einsetzende Klimakatastrophe. Der Ausnahmezustand durch die Pandemie ist im Grunde nur ein Schauplatz innerhalb der großen Katastrophe im Naturverhältnis. Wir sehen uns in unseren begüterten Lebensrealitäten mit der Zerbrechlichkeit des Lebens konfrontiert.

STANDARD: Viele junge Menschen malen wegen der Klimaveränderung eine Apokalypse an die Wand.

Von Redecker: Der Vergleich mit der Apokalypse stimmt nicht ganz, weil die Welt ja auch bei einem globalen Temperaturanstieg über vier, fünf Grad nicht endet, sondern dann ist permanente Katastrophe, aber es ist nicht das Ende des Lebens. Europäische Politik produziert jetzt schon ständig Katastrophe. Einbunkerung ist eine schlechte Strategie, besser wäre ein Aufrechterhalten der Verbundenheit. Ausnahmezustände bringen gegenseitige Hilfe hervor. Solange es noch Menschen gibt, ist Solidarität immer eine Option.

STANDARD: Nicht zuletzt in den Auseinandersetzungen mit den Populismen wird unter Linken immer wieder über das Verhältnis zwischen Identitätspolitik und Sozialpolitik gestritten. Ist es wichtiger, dass jedes Individuum in seiner ganzen Vielschichtigkeit sich optimal vertreten kann, oder gibt es noch so etwas wie Gruppeninteressen, gar Klassenfragen?

Von Redecker: Ich erlebe mich da selber auch schon manchmal ein bisschen wie eine Oma in dieser Hinsicht, wenn ich sehe, wie standpunkttheoretische Fragen diskutiert werden: Kann man aus dieser oder jener Position mit jener anderen überhaupt Empathie empfinden? Da würde ich spontan meinen, wenn nicht, ist doch jede Art von Solidarität verloren. Am übernächsten Tag aber organisieren dieselben jungen Leute eine situationistische Aktion zum Wohnungsmarkt. Ein Teil der Altlinken will diese jungen Leute als zu sensibel verschreien, aber da habe ich viel gelernt.

STANDARD: Ein bürgerlicher, sozialer, universalistischer Liberalismus kann die Probleme der Gegenwart nicht mehr bewältigen?

Von Redecker: Mir ist es auch unheimlich, wenn man diese Facette zu schnell abräumt. Individualismus bis zur Wahrung von idiosynkratischen Ansprüchen und Rückzugsräumen, die im liberalen Gefüge durch Rechte gewahrt sind, ist unverzichtbar. Gleichzeitig habe ich aber, stark geprägt durch feministische Theorien und "Critical Race Theory", gelernt, dass man sich klarmachen muss, wie sehr der hegemoniale, politische Liberalismus soziale Herrschaft verschleiert und verlängert. Diejenigen, die in den Verdacht geraten, zu fanatische Identitätspolitik zu betreiben, sind ja diejenigen, die liberale Ansprüche hereinretten in neue Politiken des Lebens. Darin erkennt sich die Identitätspolitik, die es nie nötig hatte, sich als Standort zu bestimmen, nämlich die weißmännlichbürgerliche, die sich für universal halten konnte, schlecht wieder.

STANDARD: Wie verlief Ihre eigene politische Sozialisierung?

Von Redecker: Ich komme aus Norddeutschland und bin in Berlin sehr ahnungslos auf bestimmte aktivistische Kontexte getroffen. Sehr schnell war ich vollkommen fasziniert von solidarischen Ökonomien, und seien es bloß WGs, die ihr gesamtes Einkommen teilen. Mit der Entscheidung, aufs Land zu ziehen und eine permanente Baustelle zu teilen, rückte plötzlich das Vertrauen zueinander und wie man mit den Dingen umgeht ganz neu ins Zentrum. Ich hätte nicht angefangen, über Eigentumsfragen so stark nachzudenken, wenn ich nicht seit neun Jahren an einem geteilten Eigentumsobjekt beteiligt wäre.

STANDARD: Die Kommune als Modell für die Gesellschaft im größeren Zusammenhang?

Von Redecker: Es geht um mehr, wenn man in der Landwirtschaft oder in einem kaputten Haus zugange ist. Man sitzt dann eben in der Pfütze, wenn man das Dach nicht repariert. Unser sehr reparaturbedürftiger Globus ist dadurch fassbarer geworden.

STANDARD: Die Welt ordnet sich derzeit nach Zonen neu – solchen, die von den Klimaveränderungen besonders betroffen sind, und solchen, die davon vielleicht sogar eine Weile noch eher profitieren werden. Wollen bald alle zu Ihnen in die Kommune?

Von Redecker: Es kann sein, dass das Berliner Umland vielleicht bewohnbarer bleibt als anderswo in der Klimakrise, dann wird sich der Haushalt womöglich vervielfachen. Wenn man auf einem der letzten Flecken bewohnbarer Erde lebt, muss man sich dem auch stellen, da ist es gut, seinen Besitzanspruch nicht zu fanatisch zu definieren. Wir sind ja keine Prepper. Die wahre Vorbereitung auf alles Kommende ist eine, die übt, zu teilen.

STANDARD: Zum Kommenden gehören in absehbarer Zeit Phasen großer Trockenheit. Fällt Ihnen das auch im eigenen Leben auf?

Von Redecker: Es ist Wahnsinn. Schon vor zwei Jahren habe ich im Regionalexpress nach Berlin immer fassungslos auf diese Äcker gestarrt und konnte nicht verstehen, dass nicht alle darüber reden. Sicher hat es damit zu tun, dass ich selbst auf einem Hof aufgewachsen bin, dass ich das dringende Bedürfnis habe, anzusprechen, dass die Wiese gelb ist. Ich will mein Leben so umstricken, dass es sich dem stellt.

STANDARD: Was könnten wir aus dem Krisenmanagement der verschiedenen Regierungen lernen?

Von Redecker: Meine Partnerin war in Italien im Lockdown. So hatte ich deutlich vor Augen, was bestimmte gesundheitspolitische Weichenstellungen, auch bestimmte Sparpolitiken, die Italien auferlegt wurden, für einen Unterschied machen. Global betrachtet ist an vielen Orten berechtigte Empörung entstanden, wenn Regierungen ihre arbeitenden Bevölkerungen mehr oder weniger ins Messer rennen lassen. Die ganze Debatte weist darauf hin, dass wir uns in einem Dilemma bewegen, weil wir unser Gesundheitssystem mit profitorientierter Wirtschaft verzahnt haben. Stellen wir uns hingegen eine bedürfnisorientierte Gesellschaft vor, in der die lebenserhaltenden Tätigkeiten die am stärksten geförderten sind und wo Produktion sich den Anforderungen des Lebens anpassen kann, sähe das ganz anders aus. (Bert Rebhandl, 5.1.2021)