Griechenland hält viele Geflüchtete in teils menschenunwürdigen Lagern auf den Ägäis-Inseln fest. Weihnachtliche Appelle, sie aufzunehmen, verhallten.

Foto: AFP / Louisa Gouliamaki

Der Jurist und Politikwissenschafter Christoph Konrath kritisiert im Gastkommentar die Flüchtlingspolitik der Regierung und bezeichnet das Mantra der Hilfe vor Ort als zynisch.

Weihnachten ist vorbei, doch die Herbergssuche geht weiter. Die Appelle, Flüchtlinge aus dem Elend der griechischen Lager herauszuholen, sind (zumindest vorerst) wirkungslos geblieben. Während sich Bischöfe, unzählige Bürgermeister, der Bundespräsident und viele andere für die Aufnahme von Familien mit kleinen Kindern auch in Österreich ausgesprochen haben, bleibt die Bundesregierung bei ihrem Nein. Die Argumentation ist seit 2015 dieselbe: Österreich habe bereits viel geleistet (was zweifelsohne richtig ist), und zusätzliche Hilfe wäre mit einer verantwortungsvollen Politik nicht vereinbar. Zuletzt hat Bettina Rausch, die Präsidentin der Politischen Akademie der ÖVP, diese Sicht im "Kurier" bekräftigt und die Bereitschaft, zu helfen, als Gewissensberuhigung und Symbolpolitik bezeichnet.

Diese Reaktion kann als zynisch bezeichnet werden. Zugleich sollten wir nicht übersehen, dass sie für viele Menschen aber vernünftig klingt. Wenn Politiker auf Verantwortung, Ethik und einen großen Denker wie Max Weber verweisen, wird ihre Sicht untermauert. Der Vorwurf, zynisch zu sein, ist dann für sie ein weiteres Beispiel für "Moralisieren", das jegliche politische Debatte verunmöglicht.

Ich gehe hier davon aus, dass die Argumente, jene gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen und noch mehr jene gegen Menschen, die sich dafür aussprechen, aufrichtig gemeint sind. Daher habe ich vier Fragen an jene, die sie verwenden:

1. Warum diskutieren wir über Ethik und nicht über Recht?

Wenn heute gefragt wird, was Europa ausmache, dann ist die Antwort oft: "Der Rechtsstaat und die Grundrechte". Die Lektion, die Europa aus dem 20. Jahrhundert gelernt haben will, ist, dass hier jeder Mensch Rechte hat. Warum ist es dann so, dass wir, wenn es um die Situation von Menschen auf der Flucht geht, oft nur mehr darüber sprechen, ob (und wo) Hilfe ethisch geboten sei?

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich behaupte nicht, dass es ein Recht gebe, Aufnahme in einem bestimmten Land zu finden. Sehr wohl aber garantieren wir das Recht auf faire Verfahren und menschenwürdige Behandlung, die beide offensichtlich auf den griechischen Inseln und an anderen Orten Europas nicht gewährleistet werden.

Angesichts des Umstands, dass Ethik im Gegensatz zu Recht von vielen mit individuellen Meinungen und Entscheidungen verbunden wird, frage ich nach den Gründen: Haben Menschen also Rechte oder hängen sie vom Gutdünken anderer ab?

2. Was hat Max Weber tatsächlich gesagt?

Die Antwort auf solche Fragen ist oft, dass es nicht um konkrete Hilfe oder Rechte Einzelner gehe, sondern dass es den Blick auf das Ganze brauche. Dazu wird der Soziologe Weber zitiert, der nach dem Ersten Weltkrieg fragte, was es jetzt für einen Typ von Politiker brauche. Eine Antwort war der Vortrag Politik als Beruf. Hier hat er einen Rahmen für politisches Handeln beschrieben, das er zunächst als gesinnungs- oder als verantwortungsethisch versteht. Das meint, dass man entweder seine Gesinnung ohne Rücksicht durchsetzen will oder dass man bereit ist, verantwortlich für die voraussehbaren Folgen seines Handelns aufzukommen. Für ihn sind das aber keine absoluten Gegensätze. Politische Berufung (daher der Titel als Beruf) zeigt sich darin, mit den Spannungen einer konkreten Situation umgehen zu können und die eigenen Überzeugungen und Handlungen gerade an diesen scharfen Gegensätzen zu prüfen.

3. Reicht es aus, Gesinnungs- und Verantwortungsethik gegenüberzustellen?

Weber war, wie gesagt, Soziologe. Wenngleich wir aus seinem Werk Einstellungen zu Ethik ableiten können, so ergeben sich daraus keine Kriterien für die Beurteilung konkreter Fragen. Bloße Verweise auf Gesinnung oder Verantwortung helfen nicht weiter. Wenn wir Handlungen ethisch begründen und nicht bloß politisch entscheiden wollen, dann müssen wir sie mit ethischen Argumenten (also einer bestimmten Form der Auseinandersetzung) stützen und letztlich auch in Beziehung zu geltendem Recht setzen. Zentrale Ansatzpunkte dafür sind Menschenwürde und Gerechtigkeit. Es ist aber nicht ausgeschlossen, stattdessen den Nutzen einer bestimmten Gruppe als Ziel zu formulieren und Menschen abzusprechen, über Rechte zu verfügen. Immer geht es darum, Grundannahmen mit konkreten Auswirkungen abzuwägen und Verantwortung zu übernehmen.

4. Warum wird auf vergangene Leistungen hingewiesen?

Anstelle solcher Begründungen wird seit Jahren betont, wie vielen Menschen Österreich geholfen habe. Es geht also um "unsere" Leistungen. Das ist zunächst ein historisches Argument. Ethische Fragen müssen jedoch im Heute und mit Blick auf die Zukunft beantwortet werden. Ich frage mich aber, ob dieser Hinweis nicht auf die Ausgangspunkte zurückführt: Es geht dann nicht um ethische oder rechtliche Verpflichtungen, sondern um etwas, das aus freier Entscheidung getan oder nicht getan wird. Das Schlüsselwort dafür ist Souveränität, und wer souverän bleiben will, muss lernen, seine Gefühle zu beherrschen, selbst wenn ihn Schicksale rühren. Das war – gerade nach dem Ersten Weltkrieg – ein leitendes Verständnis von Politik. Angesichts der Katastrophen, in die es geführt hat, sollte es nach 1945 nie wieder bestimmend werden. Dazu hat man die Europäische Menschenrechtskonvention und Verpflichtungen zu internationaler Solidarität geschaffen. Stehen damit auch sie zur Debatte? (Christoph Konrath, 5.1.2021)