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Staatspräsident Sergio Mattarella (re.) setzt alle Hebel in Bewegung, um die Regierung von Giuseppe Conte (li.) stabil zu halten.
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Es war für den 79-jährigen Staatspräsidenten nicht einfach, in seiner Ansprache zum neuen Jahr die richtigen Worte zu finden: Die Italiener waren über die Festtage epidemiebedingt praktisch zu Hause eingesperrt, mehr als 70.000 Familien trauerten um Angehörige, die im vergangenen Jahr dem Coronavirus zum Opfer gefallen waren. Hunderttausende Betriebe stehen vor dem Aus oder mussten schon aufgeben. Fünf Millionen Menschen droht der Abstieg in die Armut.

Doch der (groß)väterlich wirkende Sergio Mattarella fand die Worte des Trostes und der Ermunterung, die das Land derzeit so bitter nötig hat. "Wir sind fähig, die Krise zu meistern", betonte das Staatsoberhaupt. 15 Millionen Italiener haben seine Neujahrsansprache im Fernsehen verfolgt, ein Allzeitrekord.

Allerdings: Italien wird derzeit nicht nur gesundheitlich, wirtschaftlich und sozial von der schlimmsten Krise der Nachkriegszeit heimgesucht. Seit Wochen schwelt auch eine hartnäckige politische Krise. Während weiterhin eine halbe Million Einwohner mit dem Coronavirus infiziert sind, sich das Land in einem Teillockdown befindet, die Impfkampagne bisher durch Personal- und Spritzenmangel praktisch blockiert war und acht Millionen Schülerinnen und Schüler immer noch nicht wissen, ob sie am Donnerstag wie geplant in ihre Klassen zurückkehren können, leistet sich die Regierung von Giuseppe Conte einen lähmenden Streit, der leicht in eine handfeste Regierungskrise münden könnte.

Renzi droht mit Rückzug aus der Koalition

Auch bezüglich des politischen Streits, für den kaum ein Italiener Verständnis aufbringt, fand Mattarella in seiner Rede deutliche Worte: "Jetzt ist die Zeit des Zusammenhalts und der Ernsthaftigkeit", erklärte er an die Adresse der Politiker. Erhört wurde seine Mahnung bisher nicht: Der ehemalige Premier Matteo Renzi droht weiterhin mit dem Abzug seiner beiden Ministerinnen und damit mit dem Sturz der Regierung. Seine Minipartei Italia Viva ist zwar der kleinste Partner in der Koalition mit der Fünf-Sterne-Bewegung, dem sozialdemokratischen PD und der linken Partei Liberi e Uguali (LEU). Aber ohne ihn hat die Regierung im Senat keine Mehrheit.

Matteo Renzi pokert, um zurück ins Spiel um die Macht zu kommen.
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Der Ex-Premier verlangt von Conte mehr Mitsprache bei der Verteilung der 209 Milliarden Euro, die Italien aus dem EU-Wiederaufbaufonds erhalten wird. Und vor allem fordert er, dass das viele Geld mehr für Investitionen, Innovationen und Reformen verwendet wird – und weniger für populistische Einmalsubventionen und dutzende verschiedene Boni nach dem Gießkannenprinzip, wie es im Budget für 2021 vorgesehen ist.

In der Sache hat Renzi mit fast allen seinen Kritikpunkten recht – und es ist anzunehmen, dass ihm Mattarella insgeheim ebenfalls beipflichtet. Gleichzeitig weiß das politisch erfahrene Staatsoberhaupt, dass recht haben nicht immer ausreicht und dass sich das Land in der derzeitigen Situation keine Regierungskrise leisten kann.

Seit Wochen schon versucht Mattarella deshalb hinter den Kulissen das Schlimmste abzuwenden: Er trifft sich mit Conte, kontaktiert Parteiführer und Fraktionschefs, appelliert bei seinen öffentlichen Auftritten an das Verantwortungsgefühl der politischen Führer. Mehr kann der Staatspräsident nicht unternehmen: Es steht nicht in seiner Macht, einen Parteichef davon abzubringen, die eigene Regierung zu stürzen.

Der Letzte, der das getan hat, war Lega-Chef Matteo Salvini, der Conte im August 2019 das Vertrauen entzog – in der Hoffnung, sich an dessen Stelle zu setzen. Doch statt Neuwahlen auszuschreiben, ließ Mattarella den gestürzten Conte eine neue Regierung bilden – weiterhin mit den Fünf Sternen als stärkster Regierungspartei, aber mit anderen Koalitionspartnern: statt mit Salvinis rechtsnationaler Lega neu mit dem PD, Italia Viva und LEU.

Der Krisenmanager

Sollte Renzi Ernst machen und diese Woche wie angedroht seine Ministerinnen aus der Regierung abziehen, dann schlüge erneut die Stunde des Präsidenten als Krisenmanager: Es wäre Mattarellas Aufgabe, das politische Vakuum zu füllen und dem Land so rasch wie möglich zu einer neuen Regierung zu verhelfen – mit oder ohne Neuwahlen, mit oder ohne Conte als neuem und altem Premier. Möglich wäre zum Beispiel auch eine Regierung der nationalen Einheit oder eine Expertenregierung.

Nach der Regierung von Paolo Gentiloni (2016–2018), der ersten Regierung Conte (2018–2019) und der zweiten Regierung Conte (2019–2021) wäre es bereits die vierte Regierungsbildung, bei der der 2015 zum Präsidenten gewählte Mattarella die Regie führen würde. Der scheue und mitunter fast unterkühlt wirkende Sizilianer wäre einmal mehr der Fels in der politischen Brandung.

Lange wird der krisenerprobte Mattarella, dessen Bruder Piersanti 1980 in Palermo von der Mafia erschossen worden war, aber nicht mehr das stabile Bollwerk in der notorisch instabilen italienischen Treibsandpolitik bleiben: Seine siebenjährige Amtszeit geht in einem Jahr zu Ende. Es wird nicht leicht werden, eine vergleichbar integre und prinzipientreue Persönlichkeit zu finden, auf die sich die heillos zerstrittenen Parteien im Parlament werden einigen können. In Rom wurden deshalb auch schon Stimmen laut, die eine zweite Amtszeit des Staatspräsidenten forderten. Mattarella erteilte den Sirenengesängen in seiner Neujahrsansprache eine klare Absage: "Das neue Jahr ist mein letztes als Präsident." (Dominik Straub, 5.1.2021)