Ajnabia odysseus wirft einen Blick aufs Meer. Doch wie hat er es überquert?
Illustration: Raul Martin

Zehn Jahre lang soll der Titelheld von Homers Odyssee übers Meer geirrt sein. Und seit der Antike rätseln Historiker, wo die realen Vorbilder der Zyklopeninsel, des Lands der Lotosesser und all der anderen Orte gelegen haben mögen, an die es Odysseus dem Epos zufolge verschlug. Ihre Kollegen aus der Paläontologie dürfen indes über einen Dinosaurier rätseln, der nach dem mythischen Seefahrer benannt wurde. Immerhin wurde Ajnabia odysseus auf der "falschen" Seite der Welt ausgegraben.

Zweigeteilte Welt

Der kreidezeitliche Odysseus lebte in der letzten Phase der Dinosaurier-Ära vor dem Einschlag des Asteroiden. Damals trennte das Tethysmeer – passenderweise ebenfalls nach einer Figur aus der griechischen Mythologie benannt – den nördlichen Superkontinent Laurasia von seinem zerfallenden Gegenstück Gondwana im Süden.

Und diese Zweiteilung hatte auch auf die Tierwelt Auswirkungen: Auf den südlichen Landmassen waren immer noch die langhalsigen Sauropoden die dominierenden Pflanzenfresser, wie schon seit über 150 Millionen Jahren. Im Norden aber hatte sich inzwischen eine Revolution abgespielt. Hadrosaurier, jene Gruppe, zu der auch Ajnabia odysseus gehörte, hatten die Konkurrenz an die Wand gespielt.

Innovative Nahrungsverwertung

Hadrosaurier waren in der Kreidezeit das, was die Wiederkäuer heute sind: eine arten- und formenreiche Gruppe von Pflanzenfressern, die jede Region besiedelte, die sie erreichen konnte. Es gab sie in den verschiedensten Größen, und auch wenn sie nicht annähernd an die kolossalen Sauropoden heranreichten, hatten sie diesen gegenüber doch einen Vorteil. In ihrem entenschnabelförmigen Maul saß nämlich eine große Zahl von Zähnen, mit denen sie die Nahrung vorkauen und damit besser aufbereiten konnten.

Es war kein so effizientes Kauen, wie es die Säugetiere mit ihren Backenzähnen zuwege bringen, aber dennoch ein Quantensprung gegenüber den Sauropoden. Die konnten mit ihren Zähnen Pflanzen lediglich ausrupfen oder abschneiden und mussten ihre Nahrung im Ganzen hinunterschlingen. Die höhere Energieausbeute war nach Meinung von Paläontologen der entscheidende Unterschied. Sie habe es den Hadrosauriern ermöglicht, sich über ganz Nordamerika und Eurasien auszubreiten und die Sauropoden dort zu einer antiquierten Randerscheinung zu degradieren.

Gestrandet auf der anderen Seite der Welt

Doch Ajnabia odysseus wurde in Sauropoden-Land ausgegraben, genauer gesagt im Ouled-Abdoun-Becken im Inneren Marokkos. Zu seinen Lebzeiten muss die Region zur afrikanischen Küste gehört haben, da dort Fossilien sowohl von Meeres- als auch von Landbewohnern gefunden wurden. Aber wie hat es das Tier dorthin verschlagen? "Es ist, als würde man ein Känguru in Schottland finden", sagt Nicholas Longrich von der Universität Bath, der die Untersuchung des Fossils geleitet hat.

Die Hadrosaurier müssen auf ihrem Zug um die Welt mehrfach Meeresstraßen überquert haben.
Illustration: Nick Longrich

Der Vergleich ist natürlich dezent übertrieben. Afrika und Europa lagen einander schon damals direkt gegenüber, und die Tethys war an dieser Stelle deutlich schmäler als weiter im Osten. Es blieben aber immer noch hunderte Kilometer offenes Meer, die der kreidezeitliche "Irrfahrer" überqueren musste, um aus der europäischen Heimat seiner Familie nach Afrika zu gelangen. Wie er das geschafft hat, ist offen.

Schwimmathlet ...

Hypothese 1: Odysseus ist geschwommen. Das wäre ein ziemlicher Kraftakt gewesen, aber Longrich will ihn nicht ganz ausschließen. Immerhin hatten Hadrosaurier kräftige Hinterbeine, auf denen sie sich auch aufrichten konnten, und einen muskulösen Schwanz. Beides zusammen könnte für ausreichenden Antrieb im Wasser gesorgt haben.

Die Vorstellung wirkt fast wie ein Rückfall in alte Zeiten: Nachdem im 19. Jahrhundert die ersten Hadrosaurierfossilien gefunden worden waren, herrschte lange Zeit die Vorstellung vor, dass die Tiere semiaquatisch gelebt hätten. Von dieser Hypothese sind Paläontologen im Lauf der Zeit Schritt für Schritt wieder abgerückt, Hadrosaurier gelten heute eindeutig als landlebend. Aber auch solche Tiere legen mitunter erstaunliche Schwimmleistungen hin – Elefanten etwa schaffen an die 50 Kilometer.

... oder unfreiwilliger Floßfahrer?

Hypothese 2: das gute alte "natürliche Floß". Ansammlungen aus entwurzelten Baumstämmen und anderem Pflanzenmaterial, die von Stürmen aufs Meer hinausgetrieben werden und dabei unfreiwillige Passagiere an Bord haben, gelten seit langem als plausibelste Erklärung für die transozeanische Ausbreitung von Tierarten. So sollen unter anderem einst die Affen von Afrika nach Südamerika und die Lemuren nach Madagaskar gekommen sein. In historischer Zeit konnte der Effekt laut Longrich bei Leguanen beobachtet werden, die so von einer Karibikinsel zur nächsten gelangten.

Ajnabia odysseus im Größenvergleich mit anderen Dinos, die damals in der Region lebten – und mit zwei heutigen Bewohnern.
Illustration: Nick Longrich

Mit einem Dinosaurier scheint ein solches Floß überfrachtet zu sein, doch Ajnabia odysseus war im Vergleich zu anderen Hadrosauriern ein Zwerg. Drei Meter Länge klingen imposant, bedeuten aber angesichts seines Körperbaus mit langem Schwanz, dass er de facto die Ausmaße eines Ponys hatte. Da wären die Flusspferde, die im Eiszeitalter von Afrika nach Madagaskar gelangten, schon eine schwerere Fracht gewesen. Und doch dürften laut Biologen auch in diesem Fall natürliche Flöße eine Rolle gespielt haben. Flusspferde sind nämlich trotz ihrer Lebensweise keine geübten Schwimmer: Sie stoßen sich stattdessen vom Gewässerboden ab und "springen" einen Bogen nach dem anderen durchs Wasser – eine Taktik, die aber nur in flachen Binnengewässern funktioniert.

Der Weg der Hadrosaurier

Die spezielle Untergruppe der Hadrosaurier, zu der Odysseus gehörte, waren die Lambeosaurinae. Gekennzeichnet waren sie – eine weitere Parallele zu den heutigen Wiederkäuern – durch einen von Art zu Art unterschiedlichen Kopfschmuck. In ihrem Fall waren es hohle knöcherne Kämme, die aller Wahrscheinlichkeit nach Signalwirkung in der Balz hatten. Möglicherweise konnten die Tiere auch Töne erzeugen, indem sie Luft durch ihre Kämme leiteten.

Entstanden sind die Lambeosaurinae in Nordamerika. Über eine Landbrücke konnten sie noch trockenen Fußes ins heutige Eurasien gelangen, doch im Südwesten des Superkontinents war damit vorerst Schluss. Europa bildete damals noch keine zusammenhängende Landmasse – dennoch hat man Fossilien solcher Tiere auch im heutigen Spanien gefunden. Die Folgerung: Ajnabia odysseus war nicht der erste Seefahrer seiner Verwandtschaft, auch wenn diese Spezies die längste Strecke bewältigt hat. Ob das gefundene Exemplar selbst die Seereise angetreten hatte oder ob es der Nachkomme früherer Seefahrer war, ist freilich nicht geklärt.

Offen muss auch bleiben, ob der kreidezeitliche Odysseus ein Floßfahrer war oder ob er eine triathlontaugliche Schwimmleistung hingelegt hat. Beides wäre jedenfalls ein äußerst seltenes Ereignis, für das eine Menge günstiger Faktoren zusammenspielen müsste. Doch Longrich betont den Zeithorizont: "Über Millionen von Jahren hinweg ist es wahrscheinlich, dass Jahrhundertereignisse viele Male auftreten." (jdo, 10.1.2021)