Veränderung ist die Signatur, die Auseinandersetzung damit die Aufgabe der Zeit. Aus der Bereitwilligkeit dazu entwickelt sich die Fähigkeit zur Orientierung und Behauptung in der zukünftigen, weitgehend neuen Regeln und Abläufen folgenden Arbeitswelt. Diese Auseinandersetzung wird begleitet und untermalt von unterschwelligen persönlichen Gedankenspielen. Deren Färbung bestimmt mit über die Grundeinstellung zu dem, worauf sich nun einzustellen und einzulassen ist. Daraus ergibt sich eine Selbstbeeinflussung, die sich in der Frage komprimieren lässt: Erfolgt die Auseinandersetzung mit der Welt der Algorithmen und künstlichen Intelligenz offensiv oder defensiv, die eigene Entwicklung ins Neue fördernd oder behindernd? Die Orientierung weg vom Analogen hin zum Digitalen wird damit auch zu einer Frage mentaler Fitness beziehungsweise mentaler Stärke oder Schwäche.

Lassen sich doch mit nichts anderem so schnell Versagens- und in der Folge Zukunftsängste in den Kopf zaubern wie mit fehlsteuernden Gedankenspielen. Deren Kraft entmutigt im Handumdrehen, vertreibt Hoffnung und Zuversicht. Emotionen, in denen die in Wolfhalden in der Schweiz lebende renommierte Psychologin und Psychotherapeutin Verena Kast Schlüsselelemente der Lebensbewältigung sieht.

In ihrem Buch Immer wieder neu beginnen – Die kreative Kraft von Hoffnung und Zuversicht begründet sie das nachvollziehbar. In der Schlussfolgerung deutet auch das darauf hin, soll Eingewöhnung in die und das Arbeiten in der digitale/n Arbeitswelt nicht zu einem einzigen permanenten Stressfaktor werden, dann muss die Aufmerksamkeit auch dem Mentalen und einer seiner wichtigsten "Urheber", den persönlichen Gedankenspielen, gelten.

In einem der ersten Bücher zur Persönlichkeitsentwicklung, der 1903 erschienenen kleinen Schrift As a Men Thinketh, heute im Handel unter dem Titel Wie der Menschen denkt, so lebt er, betont Verfasser James Allen: "Ein bestimmter, beharrlich verfolgter Gedankengang, sei er gut oder schlecht, wird auf jeden Fall zu bestimmten Ergebnissen beim Charakter und den Verhältnissen führen. Ein Mensch kann sich seine Lebensumstände nicht direkt aussuchen, aber er kann sich seine Gedanken aussuchen und somit indirekt, jedoch gewisslich, seine Lebensumstände formen." In anderen Worten: erschweren oder erleichtern. Wird diese Erkenntnis beherzigt und zum Leitgedanken bei der Bewältigung der neuen beruflichen Anforderungen erhoben, wird diese Aufgabe dadurch nicht unbedingt leichter, aber innerlich widerstandsfreier, womit erhebliche mentale Kapazitäten frei für die Investition in die Zukunftsbewältigung werden.

Gedanklich formen

Kronzeuge dafür in unseren Tagen ist auch die Stanford-Psychologie-Professorin Carol Dweck. In Selbstbild – Wie unser Denken, Erfolge oder Niederlagen bewirkt verdeutlicht sie anhand ihrer Forschungsergebnisse, "wie sehr wir uns von unseren Glaubenssätzen und Grundeinstellungen leiten lassen". Und eben auch zum Schaden von Lebensqualität und Lernwilligkeit nur zu häufig verleiten lassen. In acht unterschiedlich facettierten Kapiteln informiert sie darüber, wie ausgeprägt eingeengtes Denken die persönliche Entwicklung blockiert.

Und nun kommt der in New York und Toronto lehrende Psychiater und Psychoanalytiker Norman Doidge mit seinem exzellenten, in Wissensvermittlung wie Lesbarkeit hervorstechenden Buch Neustart im Kopf ins Spiel. Er macht deutlich: Wer sich in seinem Denken verbunkert, verzichtet damit zum eigenen Schaden auf eine faszinierende Eigenschaft des Gehirns – dessen erstaunliche Plastizität. Denn unsere kleinen grauen Zellen sind nicht, wie lange angenommen, eine unveränderbare "Hardware". Es ist möglich, sie mit neuer "Software" zu versehen. Die Hilfestellungen von Psychoanalyse wie Psychotherapie fußen auf dieser segensreichen Plastizität des Gehirns. Denn das Gehirn, so die in den letzten Jahren immer deutlicher zutage getretene Erkenntnis, kann sich auf verblüffende Weise umgestalten und sogar selbst reparieren – bis ins hohe Alter. Doidge: "Diese Erkenntnis ist die wohl sensationellste Entdeckung der Neurowissenschaften." Als persönliche Lern- und Veränderungsaufgabe mag die Digitalisierung happig sein, zumal sie zu bislang unbekanntem pausenlosem "Updaten", sprich: Neulernen zwingt. Aus der Sicht des Gehirns allerdings besteht zu dieser Empfindung eigentlich kein Grund.

"Das Gedankenorgan ist innerhalb gewisser Grenzen formbar und durch gezielte mentale Übungen perfektionierbar", war der spanische Neuroanatom und Nobelpreisträger Santiago Ramón y Cayal bereits 1894 überzeugt. Doch Cayal suchte in seinen letzten Lebensjahren vergeblich nach Beweisen für die Plastizität des Gehirns. Er unterstrich aber 1904 noch einmal seine Überzeugung: Gedanken, die in "mentalen Übungen‘" wiederholt würden, stärkten bestehende neuronale Verbindungen und schafften neue. Ein Jahrhundert weiter ist das nun State of the Art. Über das Wie informiert Doidge. In Treffen mit Pionieren der Neurowissenschaften stellt er deren Forschungen und Erkenntnisse vor. Die sich daraus ergebenden neuen Möglichkeiten, beispielsweise in der Rehabilitation, erläutert er in Begegnungen mit Patienten, die davon profitiert haben. So werden einerseits die erstaunlichen Selbstheilungskräfte deutlich, die das Gehirn freisetzen und bewirken kann. Und andererseits, wie das Gehirn mit seiner enormen Plastizität auch die ganz normale Alltagsbewältigung nicht nur unterstützen, sondern beinahe sogar revolutionieren kann.

Offenbar ist mentale Übung eine wirkungsvolle Vorbereitung, um eine Fähigkeit mit geringerem Aufwand zu erlernen.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Die Gehirnkarte schreiben

Einer der von Doidge besuchten Neurowissenschafter, Alvaro Pascual-Leone vom medizinischen Zentrum der Harvard University, brachte zwei Gruppen von Versuchsteilnehmern, die nie zuvor Klavier gespielt hatten, eine Notenfolge bei, indem er ihnen zeigte, welche Finger sie zu bewegen hatten, und sie die entsprechenden Töne hören ließ. Die Teilnehmer der ersten Gruppe saßen fünf Tage lang jeweils zwei Stunden vor einem elektrischen Klavier und stellten sich vor, die Tonfolge zu spielen und sie zu hören. Die Teilnehmer der zweiten Gruppe spielten diese Folge tatsächlich fünf Tage lang jeweils zwei Stunden auf dem Klavier.

Vor Beginn des Experiments, am Ende jedes Tags und am Ende der Woche wurden Aufnahmen von den Gehirnen sämtlicher Teilnehmer angefertigt. Dann sollten die Teilnehmer beider Gruppen die Sequenz spielen, und der Computer maß die Genauigkeit des Spiels. Pascual-Leone stellte fest, dass sich die Gehirnkarten beider Gruppen im Lauf der Woche auf ähnliche Weise verändert hatten. Bemerkenswerterweise bewirkt die rein mentale Übung dieselben Veränderungen im Bewegungszentrum wie die Übung mit dem echten Klavier. Nach fünf Tagen hatten sich die Bewegungssignale an die Muskeln bei sämtlichen Teilnehmern in gleicher Weise gewandelt, und die "eingebildeten" Pianisten spielten genauso akkurat, wie es die "tatsächlichen" Pianisten am dritten Tag konnten.

Die Klavierspieler im Geiste wiesen nach fünf Tagen zwar beachtliche Veränderungen auf, blieben jedoch hinter den Versuchsteilnehmern zurück, die real in die Tasten gegriffen hatten. Doch als sie nach Abschluss ihrer mentalen Klavierstunden eine zweistündige physische Lektion erhielten, verbesserte sich ihr Spiel und erreichte das Niveau, das die physische Gruppe nach fünf Tagen hatte.

Offenbar ist mentale Übung eine wirkungsvolle Vorbereitung, um eine Fähigkeit mit geringerem Aufwand zu erlernen. (Hartmut Volk, 10.1.2021)