Aquarelle auf Basis von Traumerinnerungen und Gobelins – sie sind für Ingrid Wiener zentrale Ausdrucksquellen.

Foto: Lea Titz

In einer ehemaligen Buschenschank, einen guten Kilometer außerhalb von Kapfenstein in der Südsteiermark, haben sich Ingrid und Oswald Wiener niedergelassen, damals, 2014, als sie endgültig aus ihrer Wahlheimat in den kanadischen Wäldern nach Österreich zurückgekehrt waren.

Viele Jahre hatten sie in Dawson am Yukon River "eine merkwürdige Kulturinsel geschaffen, mit Schubertliedern und wahrscheinlich selten gegessenen Speisen", so die rückblickende Beschreibung von Ingrid Wiener. Natürlich wäre auch anzufügen, dass es im von ihr betriebenen Claims Cafe neben Kuttelgerichten auch "die einzige Espressomaschine auf einer Fläche dreimal so groß wie Deutschland" gab.

Authentische Gerichte

Während Oswald Wiener als Schriftsteller (Die Entdeckung von Mitteleuropa) und Theoretiker ein sehr genau umrissenes Profil hat, ist Ingrid Wiener allerdings immer noch eher als Köchin und Gastronomin bekannt – und nicht so sehr als Künstlerin.

Dazu hat auch eine Biografie von Caroline Würfel beigetragen, die eher auf die bekannten Lokale in Berlin abhob, vor allem das Exil, das auch schon so etwas wie eine Kulturinsel gewesen war. Berlin war ja ebenfalls eine wesentliche Station im Leben des Paares. Und Ingrid Wiener hat im Exil lange vor der aktuellen Begeisterungen für alte Sorten und authentische Produkte Gerichte gekocht, die man zwischen Hausmannskost und Avantgarde nicht so leicht einordnen könnte.

Immer auch Kunst

Sie hat in all diesen Jahren, seit sie 1969 nach Berlin und dann Anfang der 1980er-Jahre nach Kanada ging, aber immer auch als Künstlerin gearbeitet, ohne dabei groß über die Wirkung nachzudenken. "Es wird ja keiner kaufen", dachte sie damals, als sie, anfangs gemeinsam mit Valie Export, später in Zusammenarbeit mit Dieter Roth oder Christian Attersee, Gobelins zu weben begann. Wenn man heute in das Haus in der Steiermark kommt, sieht man, dass der Webstuhl das zentrale Requisit in ihrem Atelier ist.

Nun präsentiert das neue Buch Ingrid Wiener. Durch die Kette sehen (Schlebruegge.Editor) die künstlerischen Arbeiten im Zusammenhang. Dazu zählen nicht nur die Gobelins, die bis heute ihr wichtigstes Genre sind, sondern auch Aquarelle, die auf Grundlage von Traumerinnerungen entstanden.

Schinken als Vorlage

Natürlich spielt das Kochen auch immer wieder hinein. Manche der Menüfolgen lesen sich wie konkrete Poesie, und 1999 hat Ingrid Wiener einen Schinken zur Vorlage eines Webstücks genommen. Das war dann ein besonders gutes Beispiel für die Übertragung in eine neue Form, die sie mit Fäden zuwege bringt.

Was der Titel Durch die Kette sehen inhaltlich bedeutet, versteht man wohl am besten, wenn man in Wieners Atelier hinter der Künstlerin steht und dabei zusieht, wie sie die alte Kulturtechnik des Webens zu einem bildnerischen Verfahren macht. Die Kette ist der eine Faden, der Schuss der andere. Vertikale und horizontale Linien werden so verknüpft, dass daraus ein visueller Eindruck entsteht.

Gegenteil von virtuell

Parallelen zu der digitalen Bildproduktion sind offensichtlich, aber Ingrid Wiener geht es um das Gegenteil von Virtualität. Im November saß sie gerade an einer Arbeit, für die sie ein ausgesprochen nüchternes Sujet gewählt hatte: eine Fotografie von ein paar Kabeln, etwas, was man gemeinhin keines Blickes würdigt, das sie nun aber nicht so sehr abstrahiert, sondern dem sie durch die aufwendige Prozedur des Webens einen Status gibt, der den der fotografischen Abbildung noch überbietet.

Was flüchtig wurde

Man liegt sicher nicht falsch, wenn man die Erkenntnisskepsis Oswald Wieners (er würde gern noch ein Buch über die unüberwindliche Barriere zwischen Welt und Geist schreiben) in die künstlerischen Arbeiten von Ingrid Wiener hineindenkt. Denn im Grunde halten die Textilarbeiten etwas fest, was durch die medientechnische Entwicklung zunehmend flüchtiger geworden ist.

Die Fotografie war für eine Weile so etwas wie ein Kontaktverfahren zwischen Auge und Ding, ein chemischer Faden, der seither zu einem Rechenphänomen wurde. Ingrid Wiener geht hinter die Fotografie und selbst noch hinter die Malerei zurück. Sie stellt etwas Handfestes an die Seite des Immateriellen aller Wahrnehmung. Dass sie sich über die Unwägbarkeiten des Sehens eine Menge Gedanken macht, kann man gewiss ihren Traumbildern entnehmen.

Im Besitz der Tochter

Da zeigt sich – im ephemeren Wasserfarbenbild und in beigestelltem Text – ein Versuch, das zugleich Klarste und Undeutlichste, das der menschliche Geist produziert, erinnernd und neuschöpfend wiederzufinden. Wenn man nach einer Signaturarbeit suchen wollte, würde man wahrscheinlich bei Teig aus dem Jahr 199 fündig: Ein Aquarell zeigt zwei Hände beim Ausrollen eines Teigs. Der dazugehörige Gobelin lässt erkennen, wie die Webfäden eine entsprechende Funktion wie der Teig bekommen: Sie werden von Hand zu etwas verbunden, das auch aufgehen muss.

Die Arbeit befindet sich im Besitz ihrer Stieftochter Sarah Wiener, der Köchin und Politikerin. So verweben sich "durch die Kette" auch weibliche Genealogien. (Bert Rebhandl, 7.1.2021)