Den ersten Vorsatz breche ich hiermit umgehend: Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nie wieder über 2020 zu sprechen. Weil das vergangene Jahr … ehschonwissen. Und das längst nicht nur wegen Virus und Lockdown.

Doch Vorsätze sind dazu da, gebrochen zu werden. Und in Wirklichkeit war 2020 nicht ausschließlich zum Vergessen. Aber keine Angst, hier folgt jetzt kein "Die Krise als Chance"-Sermon. Sondern der Versuch, etwas, was mich dieses durchaus elende Jahr zur Maxime zu erheben gelehrt hat, in Kolumnenform zu gießen: den Fokus auf das Schöne zu richten nämlich. Das Glas grundsätzlich als halbvoll zu betrachten. Mit statt über Menschen zu lachen – mit einer Ausnahme: mir selbst.

Weil all meine "Mimimis", all meine Jammereien Peanuts betreffen.

Das gilt ganz besonders für dieses seltsame Laufjahr. Aber dennoch: Ja, Laufen kann und ist viel. Wichtig. Schön. Es macht, hoffentlich, glücklich und hält, meistens, gesund.

Trotzdem: Es ist nur Laufen. Und das hier der Versuch eines Rückblicks.

Foto: Tom Rottenberg

Begonnen hatte 2020 ja ganz normal: Weil Sommerfitness (und damit auch Strandkörper) im Winter geformt werden, es aber ein bisserl zach ist, sich bei Wind, Kälte, Nässe von der Couch zu scheuchen, gab es zu Jahresbeginn traditionell ein paar Versuche, die Mutation von trist zu schön zu beschreiben. Etwa wenn es in aller Herrgottsfrüh durch den nebligen Schlosspark von Schönbrunn geht. Oder um die Zufriedenheit und den, jawohl, Stolz, der sich einstellt, wenn man (und natürlich frau) bei Wetterbedingungen rausgeht, bei denen sich sogar der Hund unter dem Bett versteckt. Wobei: "rausgegangen ist" passt eher, denn währenddessen stellt man sich schon oft jene Fragen, die einem auch die Leute stellen, die nicht rausgehen.

Nur: Schönwetterlaufen kann wirklich jeder und jede – und wer schon wegen DEM bisserl Stadtwinter Neujahrs-Fitnessvorsätze kübelt, hätte sich das Schreiben der Liste sparen können.

Foto: Tom Rottenberg

Aber dann war eh schon Corona. Und auch wenn wir alle damals, im März und noch nicht einmal wirklich im ersten Lockdown, vieles von dem, was heute Allgemeinwissen ist, nicht einmal erahnten oder zu fürchten wagten, gab es da doch von Anfang an ein großes Thema: Kann man denn jetzt überhaupt noch rausgehen? Sport im Freien machen?

Ganz so klar war das nämlich nicht. Dass es nie verboten war, gestanden Minister und Kanzler ja auch erst ein, nachdem kaum eine der für den Aufenthalt im Freien (mein Wiener Lieblingsstück: ein polizeilicher Doppelanzeigeversuch für eine laufende Freundin vor der Börse, weil a) das Verlassen des Wohnbezirks, 1090, also die andere Straßenseite und b) Sport im Freien verboten sei) verhängten Strafen rechtlich hielt.

Sportmediziner und vernünftig denkende Menschen betonten aber schon damals: Sport, der Aufenthalt an der frischen Luft, ist grundsätzlich gesund. Wenn man ein paar im Grunde simple Regeln und Vorsichtsmaßnahmen befolgt, spricht nichts dagegen: Was mir der Sportmediziner Robert Fritz Anfang März 2020 schreibt, gilt heute noch genauso.

Foto: Tom Rottenberg

Dennoch gab es da plötzlich ein Problem. So gut wie alle Laufbewerbe und Wettkämpfe wurden abgesagt. Und für viele Läuferinnen und Läufer stellte sich auf einmal eine Frage, mit der sie selbst nie gerechnet hätten: Auch wenn kaum jemand in der Welt des Jedermenschlaufens sich eine Startnummer umhängt, um einen Stockerlplatz zu erklimmen, auch wenn die meisten Leute nur für sich und ihre Freude (plus Fitness und Gesundheit) laufen, war da auf einmal ein Riesenloch: Auch wenn da lediglich der 5k-Lauf von Gigritzpatschen auf dem eigenen Eventkalender stand, war das eben doch ein Ziel. Und ohne Ziel macht sich halt dann doch kaum wer auf den Weg.

2020 wurde deshalb zum Jahr der virtuellen Läufe. Es gab dafür sogar eigene Medaillen. Und jede Menge kleiner, privater Irrsinns-Challenges: Den Vogel schoss für mich da der Niederösterreicher Rainer Predl mit seinem 70-Kilometer-Lauf um den heimischen Küchentisch (11.024 Runden à 6,35 Meter) ab. Aber auch der Gartenmarathon des Korneuburgers René Kuhn oder der Innenhof-Halbmarathon der Wienerin Naddy Meier fallen in diese Kategorie. Und zeigten zweierlei: Ziele kann man immer auch auf einem zweiten Weg erreichen. Aber vor allem schadet es nix, öffentlich dazu zu stehen, "ein bisserl dings" zu sein: Es tut niemandem weh, macht das Leben aber fröhlicher und abwechslungsreicher – gerade wenn einem das Lachen sonst auszugehen droht.

Foto: Screenshot Tom Rottenberg

Das öffentliche Laufbild des Jahres 2020 war dennoch ambivalent. Denn Corona machte den Menschen Beine. Und zwar in einem Ausmaß, das Gesundheitsapostel früher in ihren kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten hätten. Egal wann und egal wo: Überall wird gelaufen.

Das ist natürlich grundsätzlich gut. Herz-Kreislauf-System, Muskulatur, Immunsystem, Knochendichte, Beweglichkeit, Übergewicht, Endorphine, Anti-Lagerkoller – und so weiter.

Aber das "aber" kam dann schon beim Blick auf Beine, Füße und Schuhe derer, die da ganz augenscheinlich frisch "auf der Piste" waren: Nicht nur ich bekam vom Hin- (und dann Weg-)Schauen manchmal Fremd-Fuß- und -Knieschmerzen. Oder Phantom-Schweißausbrüche angesichts der für das Parkbanksitzen ausgelegten Textilmengen etlicher "Newbies".

Nur: Woher sollten diese Leute wissen, dass gerade am Anfang nicht Tempo und Dauer, nicht Laufuhr und perfekte Lauftunes-Playlist zählen?

Gemeinsam mit der Laufanalytikerin und Duathlon- Weltmeisterin Sandrine Illes versuchte ich deshalb ein paar Basis-Tipps zu geben.

Wenn nur ein oder zwei "Rookies" deshalb ein bisserl weniger litten oder die Freude am Laufen nicht verloren, hat es sich schon ausgezahlt.

Foto: Illes

Im Sommer war die Welt dann ja kurz wieder in Ordnung: Der erste Lockdown war vorüber. Und auch wenn jedem, der halbwegs in der Lage war, Nachrichten zu lesen, klar war, dass das nicht alles gewesen sein konnte, war plötzlich einiges wieder möglich. Gemeinsames Laufen etwa.

Mein Kumpel und Freund Ed Kramer lud mich zu "seiner" Traillaufgruppe im Wienerwald ein – und was normalerweise einfach einer von vielen schönen Läufen in netter Gesellschaft gewesen wäre, wurde so zu einem der Highlights des Jahres: Die Strecken gibt es immer, aber wie sehr mir die Menschen abgegangen waren, spürte ich erst, als sie endlich wieder da waren. Leider eben nur kurz.

Foto: Tom Rottenberg

In diesem kurzen Zeitfenster fanden dann auch die wenigen Bewerbe statt, die heuer möglich waren: der "Backwaterman" in Ottenstein etwa. Im malerischen Stausee und rund um ihn herum fand Österreichs größter (und so ziemlich einziger) Swimrun-Event statt. Swimrun ist eine spezielle Nische in der Nische der "Multisport"-Bewerbe: Man läuft und schwimmt und läuft und schwimmt in stetem Wechsel – und hat das komplette Equipment immer dabei.

Auf Deutsch: Schwimmen mit Laufschuhen – Laufen mit Badehaube & (eventuell) Neoprenanzug. Natürlich ist das "dings", aber wenn man es mag, eben auch ziemlich leiwand.

Ed und ich traten als Team über die Marathondistanz an – und wurden solide, aber hochzufriedene Letzte: Unter den lediglich 14 gestarteten Teams des Hauptbewerbs (bei den kürzeren Distanzen war deutlich mehr los, und man konnte auch alleine antreten) waren auch internationale Spitzenleute der Sportart gewesen. Außerdem haben wir jetzt ein Ziel fürs nächste Mal: Vorletzte werden.

Foto: Tom Rottenberg

Die wichtigste Lektion des Jahres lernte ich ein paar Wochen später. Auch im Wasser, aber anderswo: Die Wasserrettung von Waidhofen an der Ybbs hatte zum "Riverthlon" geladen. Im Grunde ein kurzer, knackiger Swimrun: quer durch den Fluss, durch die Stadt laufen, ein bisserl die Ybbs rauf- und runterschwimmen, wieder durch die Stadt – und noch einmal quer über den Fluss. Viereinhalb Kilometer zu Fuß, nicht einmal drei im Wasser – kein Kindergeburtstag, aber doch eine bewältigbare Aufgabe. Allerdings führte die Ybbs Hochwasser. Das machte die Herausforderung zwar größer, war aber für alle TeilnehmerInnen gleich. Ich war entspannt: Dass ich das kann, weiß ich.

Blöderweise wusste ich es an diesem Tag dann aber eben doch nicht. Einfach so, aus dem Nichts heraus und mitten im Fluss konnte ich zusehen, wie ich plötzlich nicht mehr schwimmen konnte: Ich schaffte es aus eigener Kraft an Land – aber ins Wasser ließen mich die Waidhofener nicht mehr. Zu Recht.

Natürlich war das bitter. Und hart. Aber auch eine wichtige Lektion: Es gibt solche Momente. Manchmal geht es nicht. Ohne ersichtlichen Grund. Ohne Schuld oder Fehler. Obwohl man weiß, dass man es kann. Das gilt es zu akzeptieren und anzuerkennen – sonst wird es gefährlich.

Einer meiner Bergführerfreunde sagt in solchen Momenten immer einen ganz zentralen Satz: "Die Berge sind morgen auch noch da – es liegt an dir, ob du es auch bist."

Für die Ybbs und mich gilt das auch.

Foto: Tom Rottenberg

Aber natürlich braucht man nach so einem Schlag auch eine Bestätigung. Die holte ich mir beim dritten tatsächlich stattfindenden wassernahen Bewerb: dem Austria Triathlon in Podersdorf.

Ohne Uhr und ohne irgendeine Vorgabe außer der, die Mitteldistanz (1,9 Kilometer im Wasser, 90 auf dem Rad und dann ein Halbmarathon) zu genießen, ging ich an den Start – und bekam genau das, was ich mir gewünscht hatte: ein Traumrennen. Spaß und Freude von der ersten bis zur letzten Minute – auch wenn ich unterwegs dann natürlich auch ein bisserl litt und viel fluchte. Oder umgekehrt. Aber das gehört dazu – genau das macht es aus.

Und das Gefühl danach: zu wissen und zu spüren, dass der Satz "Great things never came out of comfortzones" stimmt – umso mehr, wenn man kurz davor am Boden war.

Foto: Steinacher

Eigentlich hatte der Plan für 2020 ja gelautet, dass Podersdorf nur die Probe für den Ironman in Barcelona sein sollte. Aber dass ich mir den ebenso abschminken können würde wie den Wüstenmarathon in Eilat dann im Winter, war schon im Sommer klar gewesen. Natürlich tat das weh. Nur, siehe Bild eins, ist das "Mimimi"-Gejammere auf allerallerhöchstem Niveau.

Lieber schaue ich also auf das, was ging. Was trotz allem möglich und wunderschön war: etwa der Kurztrip auf den Katschberg, um mir dort ein spannendes Klimaschutz-Urlaubsprojekt anzuschauen – und nebenbei einen superschönen Lauf durch den ersten Schnee des Jahres hinzulegen. Isabella Knoll, zum einen im Führungsteam eines der Hotels, über die ich recherchierte, zum anderen aber auch Ironman-Finisherin und Bergläuferin, nahm mich auf eine kurze, für mich ziemlich knackige Runde mit: Wer 160 Meter Seehöhe "flach" gewohnt ist und plötzlich auf über 1.000 bergauf rennt, weiß, wovon ich spreche.

Dennoch: Schöner geht nicht.

Danke, Welt!

Foto: Tom Rottenberg

Und dann fielen Schüsse. Nicht anderswo. Hier. Und plötzlich funktionierte das mit der über die Jahre erlernten, so oft rettenden professionellen Distanz von 1.001 Reportagen nicht mehr: Das hier war nicht anderswo. Es geschah hier. Daheim. Ging mitten ins Herz. Ließ sich nicht wegschieben oder wegschreiben.

Aber weglaufen: Laufen, Bewegung draußen, hilft mir, zu verkraften, was ich nicht verarbeiten, nicht verstehen, nicht ungeschehen machen kann. Es hilft mir, mit Dingen und Situationen klarzukommen. Klarzukommen, ohne zu verdrängen.

Laufen ist Meditation, ist die Reduktion und Fokussierung von Gedanken und Gefühlen auf das, was ist – und zählt.

Die Runde nach dem Anschlag war wichtig. Vielleicht der wichtigste Lauf des Jahres. Sicher der stillste. Und einer der schönsten.

Foto: Tom Rottenberg

Auch weil ich sie ein paar Wochen später dann sehr ähnlich noch einmal gelaufen bin. Frühmorgens durch die noch schlafende dunkle Stadt bis ans Wasser. Dann den Fluss hinunter, dem Sonnenaufgang entgegen.

Zu jenem Punkt und Augenblick, den niemand kaufen kann: dem Moment, wenn dieser kleine, gelbe Punkt über den Horizont klettert.

Weil es genau darum geht. Beim Laufen, aber nicht nur da.

Um diesen Augenblick des Staunens über ein sich täglich wiederholendes Wunder. Um das Erkennen, wie umwerfend schön das Leben ist – wenn man ihm erlaubt, umwerfend schön zu sein, anstatt es klein, beschwerlich und hässlich zu reden.

Egal ob im Rückblick auf das vergangene oder in der Hoffnung auf das gerade beginnende Jahr.

Und: Ja, trotz allem. (Tom Rottenberg, 7.1.2020)


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Foto: Tom Rottenberg