Staatsschulden und nachhaltige Staatsfinanzen sind Themen, die zuletzt in den Hintergrund getreten sind. Dies ist eine Folge der fiskal- und geldpolitischen Mentalität des "Whatever it takes", die in der Covid-Krise vorherrschend geworden ist. Obwohl eine Abfederung der Krisenfolgen durch schuldenfinanzierte Finanzhilfen erforderlich war und ist, wäre es nunmehr an der Zeit, die dadurch umso dringlicher werdende Frage einer nachhaltigen Staatsfinanzierung wieder ins Zentrum der wirtschaftspolitischen Diskussion zu rücken. Dieser Blogbeitrag verfolgt daher das bescheidene Ziel, einige ausgewählte Aspekte der jüngeren wirtschaftswissenschaftlichen Literatur hinsichtlich der Verschuldung von Staaten und der Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen aus der Perspektive halbwegs solventer Länder zu besprechen.

Schuldenreduktion durch Wirtschaftswachstum?

2007, unmittelbar vor Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise, betrugen die durchschnittlichen Staatsschulden in der EU 62 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Heute, knapp ein Jahr nach Beginn der Covid-19-Pandemie, liegen sie bei 94 Prozent. Hinter diesen Durchschnittswerten verbergen sich noch wesentlich dramatischere Entwicklungen in einzelnen EU-Mitgliedsstaaten: In Frankreich stiegen die Staatsschulden seit 2007 von 65 Prozent auf 116 Prozent, in Portugal von 73 Prozent auf 135 Prozent, in Spanien von 36 Prozent auf 120 Prozent und in Griechenland von 103 Prozent auf 207 Prozent. Eine weitere Schuldenaufnahme auf dem Kapitalmarkt wäre für diese Länder ohne die laufenden Interventionen der EZB nur zu deutlich höheren, risikoadäquaten Zinsen möglich. Österreich liegt mit einem Schuldenstand von derzeit 84 Prozent unter dem EU-Schnitt, aber deutlich über Deutschland (71 Prozent) und den Niederlanden (60 Prozent). 2007 lag die österreichische Staatsschuldenquote noch bei 65 Prozent.

Olivier Blanchard, ehemaliger Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und einer der meistzitierten Wirtschaftswissenschafter der Welt, hat sich, noch vor der Corona-Pandemie, in seiner vielbeachteten AEA Presidental Address 2019 dem Thema "Öffentliche Verschuldung und niedrige Zinsen" gewidmet und eine tiefergehende Diskussion der Kosten und Nutzen von Staatsschulden gefordert.

Ein wichtiger Teil dieser Diskussion dreht sich um das Verhältnis von Wirtschaftswachstum und (durchschnittlichem) Zinssatz auf die Staatsschulden. Dieses ist von zentraler Bedeutung, denn letztlich ist es die Entwicklung der Schulden relativ zum Einkommen (Bruttoinlandsprodukt), also die Schuldenquote, welche von Interesse ist. Übersteigt das Wirtschaftswachstum den Zinssatz für die Staatsschulden, sinkt der Schuldenstand relativ zum Bruttoinlandsprodukt – sofern nicht neue, zusätzliche Schulden diesen Effekt aushebeln. Der Staat wächst aus seinen Schulden heraus.

Die EZB drückt für die EU-Länder die Zinsen bei einer Neuverschuldung.
Foto: AFP/YANN SCHREIBER

Dieses bekannte Argument des Herauswachsens aus den Staatsschulden, zusammen mit Blanchards empirischer Beobachtung für die USA, dass ein den Zinssatz überschreitendes Wachstum in den letzten Jahrzehnten für die USA der Normalfall war und vielleicht auch weiterhin sein wird, wurde – entgegen seinen tatsächlichen Schlussfolgerungen – in der medialen Rezeption zum Teil stark vereinfacht als Plädoyer für höhere Staatsschulden interpretiert.

Unterschiede in den Ländern

Können wir uns aber auf einen solchen Automatismus der Schulden(quoten)reduktion durch Wirtschaftswachstum verlassen? Diese Vorstellung beruht auf zwei zentralen Annahmen. Erstens, der Zinssatz auf die Staatsschuld ist kleiner als das Wachstum, und das bleibt zumindest auch mittelfristig so. Allerdings kann niemand zuverlässig vorhersagen, wie sich die Zinsen und das Wirtschaftswachstum in den nächsten Jahren entwickeln werden. Trotz der derzeit historisch niedrigen Zinsen kann es in einigen Jahren zu einem bösen Erwachen kommen, wenn die (laufende) Refinanzierung der Staatsschulden ansteht und die EZB ihr Anleihenkaufprogramm nicht mehr aufrechterhalten kann.

Zweitens muss das Defizit des Primärhaushalts, also das Budgetdefizit ohne die Zinszahlungen auf die bestehende Staatsschuld, langfristig im Zaum gehalten werden, sodass es den positiven Effekt aus niedrigen Zinsen und hohem Wachstum nicht konterkariert oder gar überkompensiert. Blanchard geht in seinen Berechnungen von einem ausgeglichenen Haushalt aus. Mit anderen Worten, ein Herauswachsen aus den Staatsschulden ist nur dann möglich, wenn über einen längeren Zeitraum die Wachstums-Zins-Differenz im Durschnitt positiv ist und der Primärsaldo ausgeglichen oder zumindest nicht zu stark negativ, das heißt wenn einer Phase der Aufnahme neuer Schulden eine Phase der Konsolidierung (Sparpolitik) folgt.

Charles Wyplosz hat in seinem Artikel "Olivier in Wonderland" die Gültigkeit dieser beiden Annahmen für 21 OECD-Länder in der Periode 1961–2018 untersucht und ist zum Ergebnis gekommen, dass der günstige Fall, in dem das Wachstum den Zinssatz übersteigt, nicht die Regel ist. Nur in knapp der Hälfte der insgesamt 895 jährlichen Beobachtungen für die 21 Länder ist diese Bedingung erfüllt. Die Unterschiede zwischen den Ländern sind frappierend. In Italien war nur in etwa zehn Prozent der untersuchten Jahre die Wachstumsrate größer als der Zinssatz auf die Staatsschulden. In Korea war das in über 80 Prozent der Jahre der Fall, in Österreich in ungefähr 35 Prozent. Zudem ist die Wachstums-Zins-Differenz volatil, ein zum gegenwärtigen Zeitpunkt günstiges Verhältnis von Wirtschaftswachstum und Zinsen lässt also nicht den Schluss zu, dass dies auch noch in näherer Zukunft oder gar mittelfristig der Fall sein wird.

Kommt es wenigstens in Perioden, in denen die Wachstumsrate den Zinssatz übersteigt, zu einem Schuldenabbau? Auch das ist nicht der Fall. In Jahren mit einer günstigen Wachstums-Zins-Differenz halten sich die Beobachtungen mit einem Anstieg beziehungsweise Sinken der Staatschuld die Waage, in Perioden mit einer ungünstigen Differenz kam es in 60 Prozent der Fälle zu einem Anstieg der Staatsschuld. Das unterstreicht die Rolle des Primärdefizits, die nicht außer Acht gelassen werden darf. In guten Zeiten werden Schulden aufgenommen, weil man es sich leisten kann, und in schlechten Zeiten, um die Konjunktur zu stabilisieren.

Staatsschulden lösen sich nicht ohne Zutun

Wie würde das fiskalpolitische Verhalten einer Regierung über den Konjunkturzyklus aussehen, das in Perioden einer günstigen Wachstums-Zins-Differenz expansiv agiert (Primärdefizite zur Finanzierung öffentlicher Ausgaben in Kauf nimmt) und – sobald sich das Verhältnis zwischen Wachstum und Zins umdreht – vorübergehend konsolidiert, um Primärüberschüsse zur Stabilisierung der Schulden zu erzielen? Wenngleich der Zusammenhang zwischen Wachstums-Zins-Differenz und dem Konjunkturzyklus nicht hinreichend erforscht ist, deutet die deskriptive Evidenz für die OECD in dem Beitrag von Wyplosz auf einen positiven Zusammenhang hin. Das heißt, im Boom ist die Wachstums-Zins-Differenz günstig (und führt zu Deficit Spending), in der Rezession ist das Verhältnis ungünstig und müsste daher zur einer Sparpolitik führen. Eine Orientierung am Verhältnis von Wachstum zu Zinssatz würde daher im Ergebnis zu einer prozyklischen und damit potentiell destabilisierenden Fiskalpolitik führen.

Die Analyse von Charles Wyplosz basiert naturgemäß auf vergangenheitsbezogenen, deskriptiven Durchschnittsbetrachtungen über 21 OECD-Länder, die nicht notwendigerweise immer und für jedes einzelne OECD-Land gelten müssen. Es gibt aber auch keine triftigen Gründe anzunehmen, dass in der Zukunft günstige Wachstums-Zins-Differenzen häufiger und langfristiger auftreten werden, oder dass die Politik mittels verstärkter Budgetdisziplin stabilisierender agieren wird als bisher. Ebenso wird es auch künftig zu schweren Rezessionen kommen, die Abfederungsmaßnahmen notwendig machen und zu einem sprunghaften Anstieg der Staatschulden führen werden.

Unter dem Strich wäre es eine sehr spekulative und nicht besonders vielversprechende Strategie, ein vorübergehend günstiges Zinsniveau ausnutzen zu wollen, in der Hoffnung, aus den neuen Schulden herauszuwachsen. Der bekannte deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn hat dies in einem Ende 2020 gehaltenen Vortrag eine "Lebenslüge der Europäer" genannt. Wäre es so einfach, aus Staatsschulden herauszuwachsen, dann hätte der Anstieg der Staatsschulden der letzten Jahrzehnte in fast allen (entwickelten) Ländern ausbleiben müssen.

So unangenehm diese Realität für wirtschaftspolitische Entscheidungsträger auch sein mag: Staatsschulden lösen sich nicht ohne Zutun des Staates in Luft auf, und sie bleiben auch nicht notwendigerweise stabil. Folgt man der bisherigen Evidenz, ist ein über den Konjunkturzyklus ausgeglichener Primärsaldo eine notwendige Bedingung, um eine nachhaltige Staatsfinanzierung sicherzustellen, und bleibt damit ein fiskalpolitisch anzustrebendes Ziel. (Harald Badinger, 12.1.2021)

Fortsetzung folgt.