Die Parlamentspolizei konnte die Hunderten von Trump-Anhängern nicht vom Kapitol abhalten.

Foto: AFP/Spencer Platt

Hatten sie erst einmal die Treppen eingenommen, hatten sie auch die Fenster und Türen. So erklärt Terrance Gainer, ehemaliger Chef der Capitol Police, wie es dem Mob gestern gelingen konnte, in das US-Kapitol einzudringen. Die Capitol Police ist die circa 2.000 Beamten starke Parlamentspolizei, die eigens dafür zuständig ist, das Kapitol in Washington zu bewachen. Sie untersteht direkt dem Parlament.

"Ich hätte nicht gedacht, dass man das Gebäude stürmen kann", ergänzt Gainer in einer Meldung der Agentur Reuters. Denn die Spezialtruppe sei darauf trainiert, potenzielle Eindringlinge von den Marmorstufen um den Gebäudekomplex fernzuhalten. Wenn die aber einmal überwunden seien, dann gebe es zu viele Fenster und Türen, um alle gleichzeitig verteidigen zu können, meint er.

Dass die Einheit gestern vollkommen überfordert war, ist offensichtlich. Die Planung, ihr Handeln vor und während der Ereignisse wirft aber auch viele Fragen auf. Fast eine Stunde lang war die Capitol Police alleine damit beschäftigt, Eindringlinge abzuwehren, bis endlich Verstärkung angefordert wurde. Der Ex-Chef der Truppe formuliert, was sich nun viele denken: "Wir müssen uns jetzt ganz genau ansehen, was falsch gelaufen ist."

Szenen vom Mittwoch aus Washington.
DER STANDARD

Später Einsatz der Nationalgarde

Klar ist am Tag danach, dass gegen Ende der Trump-Rede, um circa 13 Uhr Ortszeit, erste Teile des Mobs die nicht sehr schwer überwindbaren Barrikaden rund um das Kapitol-Areal übertreten haben. Eine Stunde später, knapp vor 14 Uhr, habe die Bürgermeisterin von Washington, Muriel Bowser, Hilfe von der Nationalgarde von Washington, D.C., angefordert. Das berichtet ein Beamter aus dem Verteidigungsministerium gegenüber Reuters. Zu dem Zeitpunkt waren längst unzählige Menschen nah an das Gebäude herangekommen, kurz darauf drangen sie über diverse Fenster ein. Daraufhin wurden Abgeordnete, Journalisten und Mitarbeiter evakuiert. In mehreren Räumlichkeiten kam es zu Gerangel und auch zu dem tödlichen Schuss zwischen Polizei und Angreifern.

Gegen 14.30 Uhr Ortszeit hat schließlich, so berichtet Reuters, der amtierende Verteidigungsminister Chris Miller die gesamte Nationalgarde von D.C. aktiviert. Diese soll in der Folge die Vertreibung der Eindringlinge übernommen haben, während die Parlamentspolizei die Abgeordneten in Sicherheit brachte, berichtet die "Washington Post". Erst mehr als drei Stunden nach dem ersten Übertreten der Barrikaden konnte die Polizei das Gebäude wieder als "sicher" deklarieren.

Schlechte Vorbereitung

Heftige Kritik gab es von vielen Seiten an der offensichtlich gescheiterten Vorbereitung auf mögliche Störungen. Denn die Proteste waren genauso wie Trumps Rede eigentlich lange angekündigt. Über soziale Medien hatten sich radikale Teilnehmer über das Event ausgetauscht, unter anderem auch darüber, wie man illegal Waffen nach Washington bringen könnte. Bei derartigen Großveranstaltungen gibt es im Normalfall schon lange im Vorfeld ein Treffen diverser Sicherheitseinheiten wie des Secret Service, der Lokalpolizei und so weiter, um sich adäquat zu koordinieren. Augenscheinlich wurde die Tragweite der Veranstaltung aber unterschätzt. Die Parlamentspolizei selbst hat laut Reuters im Vorfeld keine Verstärkung durch Bundeseinheiten angefordert.

Das ist besonders pikant, weil es im krassen Gegensatz zu der schwergewichtigen Polizeipräsenz im Sommer während der Black-Lives-Matter-Proteste steht. Von Behördenseite heißt es nun, dass man sich eben wegen der damaligen Ausschreitungen und gewaltsamen Räumung diesmal habe zurückhaltend geben wollen.

Sicherheitsbeamte macht Selfies

Die Parlamentspolizei selbst hat erst am Donnerstagabend (MEZ) eine Stellungnahme zu den Vorfällen abgegeben. Man untersuche die Vorfälle, Planung und Strategien nun im Detail. Der Beamte, der den tödlichen Schuss abgegeben hat, sei bis zum Ende der Untersuchung suspendiert, was ein regulärer Schritt nach so einem Vorfall sei. Die Einheit hätte insgesamt Unterstützung von 18 weiteren Sicherheitsorganisationen erhalten.

Der Schock darüber, wie schlecht die Einheit vorbereitet war, sitzt bei vielen tief. Andere mutmaßen, ob sich etwa die Sicherheitskräfte der Einheit während der Ereignisse inadäquat verhalten hätten. Es kursieren Bilder, die einen Sicherheitsbeamten zeigen, der Selfies mit einem der Eindringlinge macht. Andere sollen laut "Washington Post" Trump-Anhängern auch bei der Überwindung der Barrikaden geholfen haben.

Für die Behörden ist die Sicherung des Kapitols grundsätzlich eine Gratwanderung zwischen Verriegeln und Transparenz. Immer wieder gab es Vorschläge, um das Areal einen Zaun zu errichten. Das wurde vom Parlament aber abgelehnt – man wolle die Öffentlichkeit ja nicht aus dem Haus des Volkes aussperren.

Angelobung als nächste Hürde

Mit ähnlichen Herausforderungen ist man auch in anderen Städten konfrontiert. So ist es im August einer Menge, die an einer Anti-Corona-Demo in Berlin teilgenommen hatte, beinahe gelungen, in den deutschen Reichstag einzudringen. Auch die Gelbwesten in Frankreich hatten Symbole der Macht in Paris angegriffen und einzelne Monumente wie den Triumphbogen Napoleons verwüstet. Die französische Polizei reagierte aber mit stärkerer Polizeipräsenz.

Die Aufarbeitung der Nacht in Washington und die Konsequenzen für die Sicherheitsbehörden wird noch lange für Diskussionen sorgen. Ein Resultat zeichnete sich aber bereits ab: Das Secret Service ist bereits zusammengekommen, um die Vorbereitungen für die Angelobung Joe Bidens am 20. Jänner zu überarbeiten. (Anna Sawerthal, 7.1.2020)