Skitourentraum: Gemütlich geht es durch den verschneiten Winterwald aufwärts.

foto: thomas neuhold

Die Sonne strahlt vom stahlblauen Himmel. Der Atem dampft in der eisigen Winterluft. Bei jedem Windhauch stieben tausende Schneekristalle durch die Luft. Langsam schieben wir die Ski durch den lichten Winterwald bergwärts. Der frische Pulver deckt so manche Zivilisationssünde mit seinem Weiß gnädig zu, der für die Skitourengeher so typische Schlurfschritt wiegt uns in einen meditativen Rhythmus.

Auf dem Gipfel dann ein Schluck heißer Tee, ein Stück Schokolade, die Bindung auf Abfahrt gestellt, und dann geht es in weiten Schwüngen durch den in der Nacht spannungslos gefallenen Pulver talwärts. "Aufi tretln und abiwedln is a vü schenas G’fühl", singen die Ausseer Hardbradler.

Gelegenheits-Tourengeher

Noch bis vor drei Jahrzehnten träumten den Traum der eigenen Spur fast ausschließlich die Nordwandgesichter, die Adrenalinjunkies, die Einzelgänger, die Freaks. Hätte Ende der 1980er-Jahre jemand erzählt, dass Ski touren zum Weltcup-Wettkampfsport werden, dass es einen Skibergsteigen-Weltrekord geben wird, dass DER STANDARD im Jahr 2020 einen Artikel über das Pistengehen mit "Stau am Berg" betiteln wird, man hätte ihm wohl den Gipfelschnaps verboten.

Skitouren blieben einst einer kleinen Minderheit vorbehalten. Hier eine Skitourengruppe in den 1930er-Jahren am Vernagtferner.
foto: österreichischer alpenverein museum/archiv

Der Sport diversifiziert sich und ist zum Breitensport mit vielen Gelegenheitssportlern geworden. Schätzungen gehen von bis zu 800.000 Aktiven allein in Österreich aus, für den Corona-Winter 2020/21 werden weitere Steigerungsraten vorhergesagt. Wobei diese Zahlen mit großer Vorsicht zu genießen sind.

Pisten und Modetouren

Sie spiegeln nur die Verkaufszahlen des Handels und sagen wenig über Art und Häufigkeit der Verwendung der Tourenausrüstung. Ein guter Teil der Tourenskier wird wohl nie mehr als präparierte Skipisten und ein paar Moderouten unter die Kanten bekommen. Dazu kommt der Hang zum "Immermehrismus" im Boulevard, der aus einem vollen Tourenparkplatz an einigen schönen Sonntagen gleich ein Massenproblem ableitet.

Geheime Routen

Unbestreitbar bleibt dennoch, dass sich die Zahl der Fellgeher und -geherinnen auch im Gelände vervielfacht hat. Wirklich eng wird es aber nur bei einigen bekannten Moderouten und auch da nur an wenigen Tagen im Jahr. Fallweise ist sogar zu beobachten, dass in manchen Gebieten die Anzahl der Touren geher zurückgeht. So werden etwa die einst viel begangenen Mai- und Juniskitouren entlang der Glocknerstraße heute deutlich seltener gemacht; viele Tourengeher steigen im Frühjahr bereits wieder aufs Bike um.

Verändert hat sich durch den Skitourentrend mit Sicherheit die Kommunikation in der Community. Hatten früher die Experten ihre neuesten Routen am echten oder am virtuellen Stammtisch stolz berichtet, so werden heute Varianten und Ortsangaben gehütet wie geheime Schwammerlplätze.

So fein: Aufitretln und obiwedln.
foto: thomas neuhold

Dabei haben doch gerade die Berichte der Altvorderen die Lust am Skibergsteigen wesentlich mit befeuert. Ebenso mögen das Gedränge am Lift, der eisige Kunstschnee so manchen Alpinskifahrer von der Piste vertrieben haben. Aber wie beim Radfahrboom der vergangenen Jahrzehnte spielt auch bei den Skitouren die technologische Entwicklung die zentrale Rolle.

Die Technik macht’s

Die steifen und langen Latten von einst sind zu spritzigen Tourcarvern weiterentwickelt worden. Mit den oft stark taillierten Brettl’n kommen auch weniger Begabte einigermaßen elegant talwärts. Schuhe und Bindungen wiegen einen Bruchteil der schweren Trümmer von früher, und die Tourenbindungen von heute brauchen in Sachen Sicherheitstechnik keinen Vergleich mit ihrer domestizierten Pistenverwandtschaft scheuen.

Skibergsteiger sind heute auch im Hochgebirge in schnittig-feschem Outfit unterwegs.
foto: thomas neuhold

Ein ganz eigenes Kapitel ist die Bekleidung: Die altvaterische Knickerbocker ist durch peppige, straßentaugliche Mode ersetzt worden; in federleichten Soft- und Hardshell-Jacken und Hosen samt Merino-Unterwäsche lässt es sich auch bei widrigeren Bedingungen halbwegs angenehm auf den Berg kommen.

Pieps und Handy

Dazu kommt die neue Sicherheitstechnologie: Die Pieps sind heute hocheffiziente, digitale Lawinenverschüttetensuchgeräte, Lawinenairbagrucksäcke gehören inzwischen zum Standard. Es gibt zusätzliche Assets wie elek tronische Sonden oder nach dem Prinzip der alten Lawinenschnur konstruierte Lawinenbänder für den Notfall.

Ein Großteil der Community ist downhill auch mit schnittigem Skihelm unterwegs. Nicht zu vergessen das Mobiltelefon, mit dem im Notfall die Rettungskette meist rasch in Gang gesetzt werden kann.

Mehr Leute – weniger Tote

Dass die Skitourengeher und erst recht die Skibergsteiger ein Haufen Lebensmüder sind, wie in manchen Echokammern auf Facebook und Co behauptet wird, ist bei Licht betrachtet Unfug. Obwohl sich die Zahl der Aktiven vervielfacht hat, hält das Schweizer Institut für Schnee- und Lawinenforschung trocken fest: "Mehr Leute, gleich viele Verschüttungen." Und: Insgesamt gehe die Zahl der Lawinentoten im Alpenraum tendenziell zurück.

Neben der verbesserten Technologie, die eine raschere Kameradenbergung ermöglicht, sind dafür die stark verbesserten Wetter- und Lawinenprognosen sowie die stark verbesserte Ausbildung verantwortlich. Statt "Sicherheit" geht es um "Risikomanagement" – also um das vertretbare Restrisiko am Berg.

Verbesserte Ausbildung

Den Anstoß für diese strategische Lawinenkunde hat in den 1990er-Jahren der Schweizer Lawinenforscher Werner Munter gegeben. Er hat den Fokus nicht mehr nur auf die Beurteilung der Schneedecke gelegt, sondern ist von zwei instabilen Systemen aus gegangen: die Schneedecke und der Mensch. Auf Munters Thesen fußen so gut wie alle Lawinenausbildungen, die von Bergführern oder alpinen Vereinen angeboten werden.

Freilich, auch wenn Technik und Ausbildung für eine größere Anzahl das winterliche Gebirge erreichbarer gemacht haben, es gibt auch Beschränkungen. Unter dem Slogan "Respektiere deine Grenzen" bleiben viele Gebiete als Rückzugsraum dem Wild vorbehalten.

Ökologie und Fahrkönnen

Das ökologische Gewissen kann die Suche nach der perfekten Abfahrt ebenso bremsen. "Bergsport ist Motorsport" lautet ein Bonmot, und tatsächlich ist die Mär vom sanften Skitourentourismus angesichts der oft für eine einzige Tour zurückgelegten Autokilometer eben eine Mär.

Das Können ist des Dürfens Maß. Skibergsteigerin in einer Steilrinne im Anstieg auf einen Dreitausender in der Glocknergruppe.
foto: thomas neuhold

Letztendlich liegt es am Tourengeher selbst. "Das Können ist des Dürfens Maß", hat Kletterpionier Paul Preuß einst formuliert. Für den Skitourensport heißt dies in etwa, dass spätestens dann Schluss mit lustig ist, wenn Hangneigung und Fahrkönnen nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Da können Wetter- und Lawinenbedingungen noch so super sein. (Thomas Neuhold, 10.1.2021)