Manche im Frühling erlernte Gewohnheiten, so meint eine Hygienikerin, müsste man wieder auffrischen, damit die Zahlen sinken.

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Wieder mehr als 2.500 Neuinfektionen in den 24 Stunden auf Donnerstag. Dabei war man doch vor ein paar Tagen schon auf unter 1.400. Irgendwie scheint dieser Lockdown nicht so recht zu greifen, tagtäglich werden erneut hohe Neuinfektionszahlen vermeldet. DER STANDARD bat zwei Experten und eine Expertin um eine Einschätzung, was denn da schiefgeht.

Zuallererst: Die Zahlen steigen nicht, auch wenn Ausreißer diesen Anschein machen. Der Wochenmittelwert der Neuinfektionen liegt seit den Weihnachtsfeiertagen recht konstant bei rund 2.000 Fällen täglich, mit üblichen Schwankungen über Feiertage und Wochenenden. "Ein Plateau, wenngleich auf hohem Niveau", nennt das Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich und Mitglied des Beraterstabs der Coronavirus-Taskforce.

In den letzten Tagen jedoch seien mehrere Effekte zusammengefallen, die das Infektionsgeschehen zum Teil dämpfen, zum Teil befeuern: "Da überlagerten sich auf der einen Seite die Feiertage mit wenig wirtschaftlichem Leben und Schulferien mit einem sozialen Leben samt Familienfeiern auf der anderen Seite", all das mache die Bewertung der Lockdown-Auswirkungen schwierig.

Auswirkung von Silvester noch offen

Ob er greife, so Ostermann, werde man erst in einigen Tagen sehen – dann, wenn nach etwaigen Effekten von Silvesterfeiern die Vergleichsbasis in den Zahlengrundlagen wieder gegeben ist. Ostermann merkt außerdem an, dass es einen Unterschied mache, von welchem Niveau man ausgehe: Sinken die Zahlen bei 9.000 Neuinfektionen täglich um zehn Prozent, so ist der Rückgang in absoluten Zahlen größer, als wenn man von einer 2.000-Fälle-Basis ausgeht.

Dazu komme, dass vor allem beim ersten Lockdown auch ein saisonaler Effekt mitgeholfen habe. Viele Viren zeigen in den wärmeren Jahreszeiten weniger Aktivität, zudem sind die Leute mehr draußen. "Da hoffen wir, dass wir ab März oder April wieder ein wenig Rückenwind bekommen", sagt er.

Ebenfalls eine Rolle spiele das Testgeschehen, betont der Public-Health-Experte Hans-Peter Hutter. Die Bilder von Schlangen vor Teststationen waren ein Zeichen dafür, dass rund um die Feiertage besonders viel getestet wurde, das spielt in die hohen Zahlen hinein. Um zu sehen, was das Virus im Land anrichtet, gilt es aber noch weitere Kurven zu beachten, etwa die der mit Covid-Patienten belegten Intensivbetten. Die hat sich seit Ende November halbiert. "Aber dennoch ist man nicht dort, wo man hinmöchte", sagt Hutter, wünschenswert wäre zumindest eine Reduktion auf 1.000 tägliche Infektionen, nur dann könne das Contact-Tracing wieder funktionieren.

Dazu kommt, dass die zahlreichen Verordnungen und neuen Regeln zunehmend verwirrend wurden. Das begann zu Ostern mit dem umstrittenen Ostererlass und zog sich weiter bis in den Advent. Mal galten Ausgangsbeschränkungen nur nachts, über Weihnachten wieder gar nicht, man sprang von sechs auf zehn auf null erlaubte Personen, die man treffen darf. Da den Überblick zu verlieren war keine Kunst.

Müdigkeit setzt ein

Abseits vom Verstehen der Regeln sank auch das Verständnis für sie. Gespräche mit Expertinnen und Experten und im Alltag machen deutlich: Das Verhalten der Leute hat sich geändert – zum Guten wie zum Schlechten. So ist eine Maske zu tragen nun für fast alle vertraut, genauso wie der Verzicht auf Händeschütteln und Umarmungen.

Und während sich im März viele kaum mehr auf die Straße trauten, so ist nun an manchen Tagen im öffentlichen Raum kein Gefühl der Krise mehr übrig – was auch zu vermehrten Kontakten führt.

Hutter spricht von einer "Pandemiemüdigkeit", die eingesetzt habe, "es geht einem einfach auf die Nerven". Damit Maßnahmen akzeptiert und befolgt würden, müsse die Politik dringend erklären, "was politisch ist und was medizinisch", sagt Hutter, "und das verwurschtelt sich öfter".

Manche Regeln aus dem Frühling – und auch das ist ein Resultat der Pandemiemüdigkeit – seien auch in Vergessenheit geraten, meint Miranda Suchomel, Hygienikerin der Med-Uni Wien. Etwa das Händewaschen. Damit die Zahlen sinken, brauchte es also vielleicht gar keine neuen Regeln, man müsste die bekannten nur wieder auffrischen, sagt sie.

Suchomel glaubt nicht, dass die Virusmutation in die konstant relativ hohen Infektionszahlen hineinspiele. "Denn im Endeffekt sind das auch nur Coronaviren", sagt sie, und wie man deren Übertragung verhindern könne, wüsste man bereits. Auch die Hygienikerin hat den Eindruck, dass die Bereitschaft der Bevölkerung sinkt. Das löst ein Dilemma aus: Denn je weniger der Lockdown befolgt wird, desto länger wird er dauern. (Gabriele Scherndl, 7.1.2020)