Wie ein Menetekel aus der Vergangenheit liest sich die Beschreibung der Pocken: Eine hochinfektiöse Erkrankung verbreitet sich wie ein Lauffeuer, ruft grippeartige Symptome hervor, befällt die Atemwege und erzeugt schließlich nach einigen Tagen einen starken Ausschlag, der sich wie ein Schuppenpanzer über den Körper zieht. Wer befallen wird, steht an der Schwelle des Todes: Drei, vier und manchmal fünf von zehn aller Infizierten starben in Epidemiejahren an den Pocken. Auch wer die Krankheit überstand, war gezeichnet. Tiefe Narben im Gesicht, die von den vergleichsweise großen, flüssigkeitsgefüllten Pusteln herrührten, waren ein bleibendes Zeichen in den Gesichtern der Menschen, ebenso wie die oftmals folgende Erblindung.

Für dutzende, ja hunderte Generationen muss diese Krankheit wie ein Schicksal erschienen sein, denn sie begleitete die Menschen, seit sie sesshaft geworden waren. Moderne Forschungsergebnisse geben Grund zu der Annahme, dass die Pocken schon zu Beginn der Jungsteinzeit in Afrika aufgetreten waren. Im alten Ägypten sind sie durch archäologische Funde nachweisbar: Die Mumie des Pharaos Ramses V. trägt Pockennarben. Von Ägypten aus verbreiteten sie sich wahrscheinlich nach Indien und China, wo sie noch vor Christi Geburt beschrieben wurden. In Europa traten sie wahrscheinlich im zweiten Jahrhundert nach Christus erstmals auf.

Vor tausend Jahren: Das erste Wattestäbchen in der Nase

Schon früh lernten Menschen, mit der Krankheit umzugehen. In Epidemiejahren sah man schwere Verläufe, die schnell zum Tod führten, und leichte Formen, die vor allem im Kindesalter leichter überstanden werden konnten. Aus Erfahrung erkannten Heilkundige, als von Ärzten in vielen Teilen der Welt noch keine Rede war, dass jene, die die Krankheit einmal überstanden hatten, kein zweites Mal erkrankten. Man begann daher, die vermeintlich leichten "Kindspocken" aktiv fortzupflanzen. Damit war die Idee der Immunisierung geboren. Schon um das Jahr 1000 hören wir von den ersten Impfversuchen in China, bei denen das Sekret aus den Pockenpusteln mit Watte in die Nase von Kindern eingeführt wurde. Auch in Indien hatte man erkannt, dass bereits mit milderen Formen Infizierte nicht mehr an den schweren Verlaufsformen erkrankten, und eine eigene Methode entwickelt: Kinder wurden in die Decken und Textilien von bereits Erkrankten eingewickelt.

Eine Frau beschreibt den Kasperl – und die "Einimpfung"

Die akademische Medizin, die sich in Europa seit dem Mittelalter langsam institutionalisierte, wollte von dieser Technik lange nichts wissen. In der Männerwelt der akademischen Medizin Europas war es ausgerechnet eine Frau, die wesentlich zum Umschwung beitrug, und das noch dazu mit einer Technik, die aus dem Osmanischen Reich kam. Die britische Adelige Lady Mary Wortley Montague (1689–1762) war die Frau des britischen Botschafters im Osmanischen Reich. Sie muss eine willensstarke, besonders intelligente Persönlichkeit gewesen sein. Schon auf der Reise von London nach Konstantinopel, die sie durch halb Europa führte, schrieb sie aufmerksame, hellsichtige Briefe nach Hause. Einer davon enthält die bis heute früheste Erwähnung der "Kasperl"-Aufführungen in Wien.

Während des Aufenthalts in Konstantinopel kam Lady Montague in Kontakt mit der im Osmanischen Reich damals geübten Form des "Pockenkaufs", einer Form der Immunisierung, bei der gesunde Menschen mit dem Pockensekret einer milden Form der Pocken immunisiert wurden. Die Praxis wurde in Konstantinopel von Frauen ausgeübt, die sich durch die Vermittlung dieser gutartigen Blattern ein Einkommen verschafften. Schon 1717 schrieb Montague in einem Brief nach Hause über diese Praxis, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. 1718 ließ sie in ihrem Sommerhaus in Konstantinopel eine alte Griechin kommen, um ihren damals fünfjährigen Sohn mit dem Pockenvirus infizieren zu lassen. Die "Einimpfung" oder "Variolation" der Pocken hatte Erfolg: Ihr Sohn erkrankte nicht schwer und blieb immun.

Lady Montague in einem türkischen Kleid, von Jean-Étienne Liotard, circa 1756.
Foto: Public Domain

Montague macht die "Einimpfung" hoffähig

Nach ihrer Rückkehr nach England gelang es Montague, der Praxis der "Variolation" in Westeuropa zum Durchbruch in der akademischen Medizin zu verhelfen. Etwa zeitgleich hatten zwei griechische Ärzte aus dem Osmanischen Reich die Technik schon der renommierten Royal Society bekannt gemacht, doch die Ärzte und Wissenschafter waren nicht bereit, das Risiko auf sich zu nehmen. Montague Schritt zur Tat: In England nötigte sie den mit ihr aus Konstantinopel zurückgekehrten Arzt Charles Maitland (1668–1748), der die Impfung ihrer Kinder in Konstantinopel beaufsichtigt hatte, die Einimpfung zu wiederholen, was dieser nur in Anwesenheit von zwei Zeugen tun wollte – wohl aus Angst, im Nachhinein der Scharlatanerie bezichtigt zu werden.

Montagues Leistung bestand vor allem darin, die Einimpfung buchstäblich "hoffähig" zu machen. Den Höfen als Zentren der Macht kam im 18. Jahrhundert für die Durchsetzung der Variolation eine entscheidende Bedeutung zu. Denn im Unterschied zu anderen epidemischen Krankheiten machten die Pocken auch vor allerhöchsten adeligen Kreisen keinen Halt; Zar Peter II. von Russland und Ludwig XV. von Frankreich starben in dieser Zeit an den Pocken. Auch die österreichische Geschichte dieser Zeit wurde von den Pocken geschrieben: Kaiser Joseph I. fiel 1711 den Pocken zum Opfer. Sein Tod machte die Hoffnungen der österreichischen Habsburger, den spanischen Thron in der Familie zu halten, endgültig zunichte.

14-jährige Patientin während der Pocken-Epidemie in Gloucester 1896. Fotografiert von H.C.F.
Foto: Wellcome Collection. Attribution 4.0 International (CC BY 4.0); (https://wellcomecollection.org/works/twq3ub6x)

Auftritt: Impfgegner

Montague fand deshalb für die Propagierung der neuen Technik im Hochadel das rechte Publikum. Die Impfung versprach nicht nur Leben zu retten, sondern auch die Schönheit besonders der "höheren Töchter" zu erhalten, was manchen fast ebenso wichtig erschienen sein mag, ging es doch nicht selten darum, die eigene Tochter bestmöglich zu verheiraten. Widerstand und Misstrauen gegen die neue Technik der Einimpfung waren dennoch groß. Die ersten Impfgegner traten auf den Plan und begannen, sowohl das Geschlecht Montagues als auch die Herkunft der Impfpraxis aus dem Osmanischen Reich als wesentliche Argumente gegen die Impfung zu nutzen.

Eine verbreitete Theorie zur Entstehung der Pocken besagte, dass die Pocken bereits im Mutterleib entstünden und durch die Mutter auf den Embryo übertragen würden, so seien Frauen also die Verursacher der Krankheit – und noch dazu komme die Praxis der Einimpfung aus dem Land des Harems. 1722 hieß es in England in einer Predigt, die gegen die Einimpfung in St. Andrews gehalten wurde, die Praxis entstamme "a few Ignorant Women, amongst an illiterate and unthinking People" und sei daher abzulehnen. Aufzuhalten war die Einimpfung aber dadurch nicht; zu groß war die Hoffnung auf den Schutz im Angesicht des Grauens der Krankheit. Bis zum Sieg der Idee in ganz Europa war es aber noch ein langer Weg. (Marcel Chahrour, 14.1.2021)

Fortsetzung folgt.