1.1.2020, Wien

Champagner und Feuerwerk über den Dächern Wiens! Freunde haben uns zu sich eingeladen, um gemeinsam Silvester zu feiern. Ich bin frisch rasiert, weißes Hemd, dunkelblaue Hose. Ein viergängiges Menü, die Korken fliegen. Countdown aus dem Radio, wir schnappen die Sektgläser und rennen rauf auf die Dachterrasse.

Drei, zwei, eins: Happy New Year! Donauwalzer auf gefrorenen Fliesen, es blitzt und kracht, alles dreht sich, tausende Euro verpulvern die Wiener binnen Sekunden im nächtlichen Himmel. Es geht uns gut. Blick auf die Stadt. Jubel. Lachen. "Juhu, die wilden 20er kommen!", ruft mir Tiba, meine Frau, ins Ohr. An diesen Satz werde ich noch oft denken. Nach drei Stunden Schlaf kauere ich im Passagiersitz einer AUA-Maschine nach Chicago. Drei Slowaken in der Reihe dahinter sind nicht ansatzweise nüchtern. Einer ruft die Flight Attendant: "I want whisky!"

2020 war auch für Privatjet-Pilot Michael Marchetti ein turbulentes Jahr, das seine Pilotenkarriere in ein anderes Licht rückte.
Foto: Privat

3.1.2020, Wichita, Kansas, USA

Rok, mein Copilot, und ich trinken gemeinsam beim "Welcome Dinner" im Hotel Rotwein aus Pappbechern, zum Frühstück dann einen halben Liter Kaffee, der schmeckt wie aufgelöste Heilerde. Dafür ist Marteen, die schwarze Kellnerin, unbekümmert und direkt wie fast alle hier: "There you go, honey!", sagt sie, lächelt und schiebt mir eine Portion Bratkartoffeln mit Gravy auf den Teller.

Am Simulator schwitzen wir bei Triebwerksausfällen, Feuer nach dem Start, Durchstarten mit nur einer Engine zwischen Bergen bei Minimum-Wetter. Das Standardprogramm, einmal jährlich, um die Pilotenlizenz für den Jet zu verlängern: "Impressive leadership skills, Michael", sagt mir Scott, unser Lehrer.

Zufrieden blicke ich aus dem Hotelzimmer. Es war ein langer, manchmal steiniger Weg bis hierher, auf den Kapitänssitz.

Die untergehende Sonne färbt den Raum orange, sie verschwindet hinter hunderten Kilometern Maisfeldern am Horizont. Zwölf Stockwerke unter mir fließt der Arkansas River, braun von Schlamm, verschmutzt mit Nitraten aus der Landwirtschaft. "You better don’t fall into it", hat eine amerikanische Kollegin lachend gemeint.

14.3.2020, im Steigflug südlich von London, Flugfläche 200

"Speedbird 31 on One two one five. Guys, does anyone have any information about a closure of the Spanish airspace?" Noch nie habe ich so viele Funksprüche auf der Notfrequenz abgehört. Corona schwappt an diesem Samstag über Europa, und verunsicherte Piloten wollen über Funk Gewissheit bekommen. Gerüchte schwirren durch die Luft, schneller als unsere Jets: Angeblich wollen die Spanier den Luftraum dichtmachen. In London müsse man in Quarantäne. Eine britische Chartergesellschaft habe gerade alle in der Luft befindlichen Flieger zurück an ihre Homebase beordert.

Wir sollen auf Mallorca Passagiere abliefern, danach zurück nach Wien. Ich mache mir Sorgen, dass wir hängenbleiben könnten. Die Treibstoffversorgung in Palma nicht funktioniert, der Flughafen gesperrt wird. Zeitgleich steht meine Frau in Wien mit meinen beiden Töchtern vor leergekauften Supermarktregalen. Seit gestern sind die Börsen auf Talfahrt, die USA machen ihre Grenzen dicht, Skiurlauber werden aus Ischgl und vom Arlberg evakuiert. Es fühlt sich an wie vor einem Krieg.

"Wir können es uns nicht leisten, Flüge auszusuchen, wir müssen jetzt performen", sagt mein Chef am nächsten Tag am Telefon.

27.4.2020, Pörtschach am Wörthersee

Österreich im Lockdown. Klopapier nicht ausgegangen. Tiba und ich nehmen den 18 Jahre alten Campingbus, der jahrelang in der Garage geparkt war, und fahren von Wien ins Südburgenland, dann weiter über die Koralpe zum Wörthersee. Kochen Nudelsuppe im Bus, übernachten mit aufgeklapptem Dach bei Freunden im Garten oder auf einem Holzlagerplatz neben der Straße. Ich habe die Gitarre mit, untertags machen wir stundenlange Wanderungen, abends schauen wir in den Sternenhimmel.

Foto: privat

Stille, mehr noch als sonst. Die Luft sauber. Die Flüsse klar. Im Tal blüht alles, oben auf dem Gipfel auf 2140 Meter Höhe stapfen wir durch letzte Schneereste. Niemand begegnet uns. Stimmen in der Presse werden laut: Wir müssten so schnell wie möglich zurück, die Wirtschaft weiter wachsen. Immer geht es ums Mehr. Warum? Ich denke viel darüber nach.

Die Antwort, die ich in mir selbst finde, hat vermutlich mit Angst zu tun. Davor, nicht genug zu bekommen. In einem Land, das zu den zehn reichsten der Welt zählt.

Ich beginne, im Internet zu recherchieren. Was ich lese, beunruhigt mich: Die Verteilung des Wohlstands, selbst in Europa, bekommt immer mehr Schräglage. Inzwischen verbaut Österreich seine Wiesen und Äcker, eine Fläche von 18 Fußballfeldern pro Tag. Chalet heißt das neue Zauberwort der Gierigen. Und vor dem Lockdown wurden über Europa täglich 30.000 Flüge registriert, mehr als 20 pro Minute. Was soll am Ende einer solchen Entwicklung stehen?

Wer kann, der fliegt 2020 keimfrei – also privat.
Foto: Privat

8.6.2020, Wien

Endlich zurück im Cockpit! Mein zweiter Flug in knapp drei Monaten. Europas Flughäfen sind Geisterstädte: Berlin, Zürich, Paris: überall stapeln sich eingemottete Linienflieger, es sind tausende. Dafür haben wir Piloten in der Luft momentan alle Freiheiten: Mit mehr als 25 Höhenmetern pro Sekunde schießen wir im Abflug von Schwechat mit unserem Businessjet durch die Wolkendecke.

Das Herz schlägt schnell, die gewohnten Handgriffe sind anfangs ungewohnt. Aber die Routine ist bald wieder da. Es gibt keine Verzögerungen, die Lotsen geben uns Abkürzungen, wo es geht. Neben uns sind fast nur Kollegen von der Fracht unterwegs. Bei der Landung dürfen wir uns sogar die Piste aussuchen. Am Ende im richtigen Moment am Steuerhorn ziehen, und 12,5 Tonnen landen sanft auf der Erde. Ich wollte nie etwas anderes!

21.7.2020, Málaga

Vollgas! Paris, Hamburg, Mykonos, Athen, Santorini, Bodrum, Berlin, Zürich, Vigo, Pula, Brüssel, Brač, London, Palermo. Jeder, der es sich leisten kann, fliegt jetzt Privatjet, keimfrei und ohne unbekannte Sitznachbarn.

Für uns heißt das: jede Nacht in einem anderen Hotelzimmer, einer anderen Stadt. Oft kommen wir mit Sonnenuntergang an und stehen in der Dämmerung wieder auf. Am Ende weiß ich nicht mehr, wo ich aufwache. Tiefe Zweifel kehren zurück. Ist das, was ich hier tue, noch sinnvoll?

Dazu Corona, das Virus ist überall: Covid-Tests, Formulare ausfüllen, Fiebermessen, Hände desinfizieren, Maske rauf, Maske runter. Der Tankwagenfahrer auf dem Vorfeld in Nizza schüttelt mir trotzdem beherzt die Hand. Von Mann zu Mann, er kommt aus Rumänien. Danach desinfiziere ich zum ungefähr 30. Mal an diesem Tag meine Finger.

Taxis beschränken die Zahl der Mitfahrer, im Hotel gibt es das Frühstück als Lunchpaket. Orange, Plastik-Wasserflasche, labbriges Sandwich. Die langen Tage im Cockpit schlagen sich bald auch körperlich nieder, mein Rücken rebelliert. Gedanken ans Aufhören. Zweimal verlängere ich auf Nachfrage den Dienst, beim dritten Mal sage ich Nein, weil meine Frau seit Tagen Urlaub hat und wir gemeinsam wegfahren wollen.

"Was anderes habe ich von dir eh nicht erwartet", sagt mein Chef. Das sitzt. Immerhin verdiene ich jetzt um 1000 Euro weniger als vor der Krise, denn wir müssen sparen. Bei den Gehältern. Den Taxis zum Flughafen. Beim Catering. Den Hotelzimmern. Die Vision des Managements ist offenbar einfach: Am besten fliegt in Zukunft jeder im Privatflugzeug.

Da ist es wieder, das Mehr. Irgendjemand kriegt nicht genug. Ich schon. Zwischen zwei Flügen, am Flughafen von Málaga, ziehe ich die Notbremse. Und kündige.

26.7.2020, Wien

Was, wenn es die falsche Entscheidung war? Ich liege wach im Bett. Drei Uhr früh. Ich liebe diesen Beruf, aber irgendetwas stimmt nicht mehr. Das Tempo ist zu hoch. Es fühlt sich so an, als hätte eine Branche die Bodenhaftung verloren. Und als müsste eines Tages jemand anderer den Preis dafür zahlen.

8.8.2020, auf einem Berggipfel bei Mariazell

Vor mir flackert ein winziges Lagerfeuer, während das letzte Abendrot am Himmel verschwindet und immer mehr Sterne aufgehen. Es ist meine dritte Nacht zwischen Fichtenwäldern und Berggipfeln, Gämsen und Schmetterlingen, Bienen und blühenden Almen. Ohne Mobilnetz, ohne Zelt, ohne Essen. Nur Stille, Wasser und eine Hängematte. Und viele Gedanken: ob es richtig ist, eine Arbeit, die auch meine Leidenschaft ist, fallenzulassen. Zu kündigen, mitten in der größten Wirtschaftskrise seit dem Weltkrieg. Das Leben ist nicht schwarz-weiß. Ich könnte als Freelancer weiterarbeiten, sage ich mir. Das nimmt den Druck, denn natürlich habe ich Angst!

Dass ich meine Familie ins Unglück reiße. Den Kredit für das Haus nicht mehr zahlen kann. Und meine Töchter? Werden sie sich schämen, wenn der Papa arbeitslos ist? Oder finden sie es cool, dass er sich Gedanken darüber macht, ob es sinnvoll ist, was er tut? Ob es vertretbar ist, dass wir 1700 Liter Treibstoff pro Stunde in die Troposphäre blasen, manchmal mit nur einem einzigen Passagier, während die Antarktis dahinschmilzt und Sibiriens Permafrost auftaut?

Keine Antwort. Nur Stille. Das Knacken des Feuers. Drei Sternschnuppen fallen in dieser Nacht. Als die Sonne kurz vor sechs aufgeht, packe ich meine Sachen. Ich kann nicht so tun, als ginge mich das alles nichts an. Während ich dem Morgennebel im Tal entgegengehe, weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Auch wenn manche Kollegen den Kopf schütteln. Unten drehe ich das Handy auf. 13 Nachrichten am Diensthandy. 19 am privaten. Und sechs Zecken, aber die finde ich erst später.

"Werden sich meine Töchter schämen, wenn der Papa arbeitslos ist?"
Foto: Privat

4.10.2020, Airport-Hotel München

Mein letzter Tag als hauptberuflicher Pilot endet noch vor Ablauf der Kündigungsfrist am Flughafen von München. Statt wie geplant am nächsten Morgen bis Indien zu fliegen, halte ich einen positiven Corona-Test in Händen, ohne Symptome.

Zehn Tage Quarantäne, aufgetragen vom Gesundheitsamt Erding, folgen. Niemand darf in mein Zimmer und ich nicht raus. Das Essen stellen Mitarbeiter im Papiersack vor die Tür, klopfen, dann schnell weg. Ein paar lugen neugierig hinter der nächsten Ecke am Gang hervor. Ich winke. "Alles Gute!", wünscht der Kellner. Draußen strahlender Sonnenschein, aber die Fenster lassen sich nicht öffnen.

Vom Schreibtisch aus sehe ich ein Stück der Startbahn 26 right. Piloten starten und landen. Lautlos. Ich bin gefangen in einer schalldichten Retorte, ohne Zeit. Netflix hilft. Und Podcasts. Am dritten Tag baue ich mir einen Parcours und gehe eine halbe Stunde auf einer bestimmten Route durchs Zimmer, vom Gang über das Badezimmer zum Fenster. Am Ende habe ich über 10.000 Schritte. Was fehlt? Frische Luft. Wind in den Haaren. Das Bellen eines Hundes.

2.12.2020, Wien

Termin beim AMS. Mit mir sind sechs arbeitslose Akademiker gekommen, darunter ein junger Kollege aus der Tourismusbranche und eine ausgebildete Malerin. Der Trainer begrüßt uns freundlich, er behandelt uns mit Respekt und stellt uns Kurse zu Social Media oder Business-Management vor, für die wir uns anmelden können. Eine fremde Welt.

Du kannst niemals den Ozean überqueren, wenn du nicht den Mut hast, die Küstenlinie aus den Augen zu verlieren. André Gide hat das geschrieben, und es ist ein Satz, der mir durch diese Wochen hilft. Meine Küstenlinie ist hinter dem Horizont verschwunden.

21.12.2020, Gastein

Sonnenwende. Der Schnee liegt meterhoch, aber die Tage werden wieder länger. Ich stapfe bis zum Talschluss im Nassfeld. Rundherum Dreitausender, manche vergletschert. Minus drei Grad, die Schritte knirschen im Schnee. Es gibt eine Art, die Dinge zu sehen: Arbeit verloren, miserable Jobaussichten, nicht mehr der Jüngste. Da ist die Angst. Die auch benutzt wird, um Druck zu machen. Aber es gibt auch einen ganz anderen Blick auf die Welt: der erkennt, wie viel wir alle schon haben.

Wir leben, ganz realistisch betrachtet, nur durch ein Wunder. Mit fast hundertfacher Schallgeschwindigkeit rasen wir mit unserer Erde um die Sonne, die 150 Millionen Kilometer entfernt ist und uns weder verglühen noch erfrieren lässt. Die Erde ist eine Oase, der einzige bewohnbare Planet unseres Sonnensystems. Auf der für alles und jeden gesorgt wäre. Und wir? Sehen dieses Geschenk nicht mehr. Bedienen uns, wollen mehr. Verspielen damit unser Dasein. Das Tal ist zu Ende.

Ich bleibe stehen, mein Atem dampft, wird zu tausenden winzigen Eiskristallen. Hunderte Meter über mir schimmert ein gefrorener Wasserfall. Es gab ihn schon, als ich noch ein Kind war. Stille. Klarheit, auch im Kopf. Vielleicht sind wir ja da, um unserer inneren Stimme zu folgen. Die sagt sehr genau, wo es langgeht. Oder eben nicht. (Michael Marchetti, 10.1.2021)