Othmar starrte auf das schwarze Display, in dem sich sein aufgedunsenes Gesicht spiegelte. Das Ding hatte einfach seinen Geist aufgegeben. Ohne Vorwarnung. Während er Selma eine Nachricht geschrieben hatte.

Ich sitze auf der Terrasse und beobachte dich. Ich halte meinen Schwanz in der ...

Weiter war er nicht gekommen. Statt seines Schwanzes hielt er das tote Ding in der Hand. Er hatte das Gefühl, ausschließlich von toten Dingen umgeben zu sein. Der Kühlschrank, der Fernseher, der Geschirrspüler, die Kaffeemaschine, die Waschmaschine, die Mikrowelle, der Wasserkocher – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Wann hatte er aufgehört, Dinge zu kaufen? Es musste kurz vor der Jahrtausendwende gewesen sein. Damals war der Kühlschrank eingegangen. Seither gab es nur noch im Winter kaltes Bier.

Autor und Regisseur David Schalko ist nach seinem 2018er-Roman "Schwere Knochen" mit "Bad Regina" zurück.
Foto: Ingo Pertramer

Selma hatte gesagt, dass es ungesund sei, von so vielen toten Gegenständen umgeben zu sein. Das übertrage sich auf das Gemüt. Worauf Othmar entgegnete, dass die Dinge doch keinen Geist hätten. Dass man sich das nur einbilde. Und dass er sich weder Reparatur noch Neuanschaffung leisten könne. Eine leere Wohnung käme ihm allerdings noch ungesünder vor. Weshalb er beschlossen habe, nichts wegzuwerfen. Er hätte sonst das Gefühl, überhaupt nicht zu existieren. Schließlich gehörten all diese Dinge zu seinem Charakter. Was wiederum Selma als Einbildung bezeichnete.

Abgesehen davon wüsste er auch gar nicht, wer in Bad Regina noch irgendetwas reparieren sollte. Bei nur 46 Verbliebenen. So etwas ließ sich ja kaum noch Demografie nennen. Wenn etwas kaputt war, dann war es kaputt. Man hatte gelernt, damit zu leben. Auch die meisten verlassenen Häuser waren inzwischen von der Natur übernommen worden. Wenn der Wasserfall nicht so laut gewesen wäre, hätte man den Wildwuchs regelrecht wuchern gehört.

Othmar hatte sich oft gefragt, wie lange ein Haus ein Haus blieb und ab wann man es wieder Natur nennen müsste. War das alte Helenenbad noch ein Bad? Othmar hatte nie das Bedürfnis gehabt, dort schwimmen zu gehen. Zu viel Marmor. Zu viel Kurort. Erst als es zusperrte, spürte er das Verlangen danach. Ähnliches galt für das Grandhotel, das Casino, das Sanatorium Kleeberg, die Radon-Bäder, das Kraftwerk – selbst das brutalistische Kongresszentrum, das sie in den Siebzigern in die Mitte des Ortes gestellt hatten, nahm Othmar erst richtig wahr, als es dem Verfall überlassen wurde. Als ob nur ein abgestürztes Flugzeug ein Flugzeug wäre. Oder eine gepflückte Blume eine Blume.

Othmar saß auf dem eiskalten Balkon und steckte das kaputte Telefon in die Tasche. Er öffnete sich trotz Gichtschubs das fünfte Bier. Sein Spitzbauch stand unter der Lederjacke hervor, als hielte er Ausschau. Das orangefarbene Licht in Selmas Haus. Sie würde sich bestimmt wundern, warum er nicht antwortete. Vielleicht sollte er hin untergehen, auch wenn es gegen ihre Abmachung verstieße. Er könnte einen Weg ins Luziwuzi vortäuschen. Die bleichen Sparlampen und der gelbe Schriftzug schimmerten am Ende des Tals. Um diese Zeit trank der Wirt Tschermak meistens mit seiner Gattin Karin allein. Höchstens dass ihm Zesch, der Bürgermeister, noch Gesellschaft leistete. Er hatte seine wehleidigen Parolen satt. Die Zeschs waren von jeher eine Nazibrut gewesen. Das war bei denen wie Herpes. Jeder von ihnen hatte es im Blut, aber nicht bei jedem brach es aus. Und bei seinem Schulkameraden Heimo, da kam es und ging es eben. Je nach Umständen.

Ein Glück, dass zumindest der Plattenspieler noch funktionierte. Aus dem Zimmer dröhnte Joy Division. Eigentlich sollte er nach Alpha sehen. Er kam ihm heute besonders trübsinnig vor. Was genauso absurd war, wie in die Dinge einen Geist hin einzuprojizieren.

Alpha saß wie jeden Abend vor dem sich drehenden Plattenteller und starrte unbewohnt vor sich hin. Trotz der vollen Ladung Manchester. Othmar war davon überzeugt, dass die heimatlichen Klänge in seinem Inneren ankamen. Irgendein verlorenes Delay würde bestimmt durchdringen. Auch wenn es keine nachweislichen Ausschläge gab. Sein Blick wie eine ausgefädelte Tonbandkassette. Nur das wasserstoffblonde Haar zappelte über die schwarzhäutige Stirn.

Othmars Blick glitt von Alphas Rollstuhl zum Hospiz. Es war zu spät, seinen Vater zu besuchen. Abgesehen davon würde Schwester Berta merken, dass er getrunken hatte. Den Blick auf den Karlsstein vermied er. Zu schmerzlich der Gedanke, dass der Krake keinen Laut mehr von sich gab. Sein Krake! Der berühmteste Klub der Alpen. Im Berginneren schlägt das Partyherz Europas, hatte der Guardian einst geschrieben. Selbst die zwölf Meter Granit hatten es nicht vermocht, die Beats daran zu hindern, ins Freie zu dringen.

Heute war es still. Hätte man eine Bombe auf Bad Regina geworfen, es hätte nichts geändert. Was war bloß passiert? War es der Hochmut, der ihnen zum Verhängnis wurde? War es die Arroganz, die man schon den Häusern ansah? Wie Messer steckten sie in den steilen Bergwänden. Je unmöglicher, desto spöttischer standen sie da. Wer war auf die Idee gekommen, unter so widrigen Umständen zu bauen? Das Tal wie eine tiefe Schnittwunde. Der rauschende Wasserfall ein Aderlass, der die letzten Lebensenergien ausleitete. Tatenlos sahen sich alle beim eigenen Verschwinden zu.

Es lag ein Fluch über Bad Regina. Und dieser Fluch hieß Chen. Niemand von den Verbliebenen kannte ihn. Niemand wusste, was er vorhatte. Aber alle nahmen sein Angebot an. Irgendwann stand er bei jedem vor der Tür. Othmar hatte sich darauf vorbereitet. Hatte sich jeden Tag einen anderen Satz zurechtgelegt, mit dem er den Verkauf seiner Wohnung ablehnen würde. Aber Chen kam nicht. Er blies einen Rauchschwall durch die offene Balkontür. Die Schwaden umschlangen den reglos im Rollstuhl sitzenden DJ wie zu seinen besten Zeiten. Eine Rotzglocke löste sich geräuschlos und rann über die Lippen seines starren Gesichts. Kein Leben auf Alpha X.

Alpha X is not a DJ.

Alpha X is a planet.

Please welcome from Manchester.

Utz-Utz-Utz.

Othmar hatte ihm trotz seines würdelosen Zustands die Würde bewahrt. Alle zwei Wochen kam Selma und restaurierte ihn. Auftrittsreif, wie sie sagte. Othmar kannte niemanden, der zärtlicher mit Alpha umging als Selma. Ja, er wünschte sich oft, er wäre an seiner Stelle gewesen. Die Zärtlichkeit einer Pflege war für ihn allerhöchste Zärtlichkeitsstufe. Aber wenn Selma zu ihm kam, dann suchte sie etwas anderes. Dann war die Restaurierung von Alpha nur Teil ihres Vorspiels. Liebevoll schnitt sie ihm die Haare. Gemeinsam zogen sie ihn um. Selma rügte ihn dann da für, dass Alpha schon wieder ranzig roch. Was Othmar reflexartig mit seinem schlechten Geruchssinn entschuldigte. Dass es der Faulheit geschuldet war, brauchte keiner zu erwähnen.

Das mit Othmar und Selma lief seit zwei Jahren. Es störte sie nicht, dass sein körperlicher Verfall inzwischen weiter gediehen war als der von Bad Regina. Umgekehrt hatte er aufgehört zu fragen, wann sie sich wieder die Haare wachsen lassen würde. Inzwischen fand er Gefallen daran. Der süßliche Geruch eines glatt rasierten Schädels war besonders intensiv. Er vergrub sich darin, wie andere an Klebstoff schnüffelten.

– Warum, hatte er so oft gefragt. – Weil ich zu schön bin, hatte sie genauso oft geantwortet. Das Weibliche habe den Blick auf ihr eigentliches Wesen verstellt. Die Männer, die immer nur ihre bezaubernde Fassade sehen wollten. Immer nur das Mädchen. Immer nur schön, schön, schön. Aber Selma war nicht schön. Sie war sogar ziemlich hässlich. Das hatte er ihr natürlich nie gesagt. Weil es keine Rolle spielte. Die Mankos spielten längst keine Rolle mehr. Vermutlich weil es keine Alternativen gab. Man nahm, was man kriegen konnte. Man liebte, was vorhanden war. Vielleicht war das die Definition von Glück. Dass man sich exakt nach dem sehnte, was bereits vorhanden war. Inzwischen störte es ihn auch nicht mehr, wenn Alpha dabei zusah. Wenn er ins Leere starrte, während sich Othmar sexuell abrackerte. Als ob es keinen Unterschied machte.

Trotzdem hoffte er, wenigstens eine kleine Regung ins Gesicht seines Freundes zu zaubern. Denn sie waren Freunde. Mehr als vor dem Unfall. Da waren sie nur Geschäftspartner gewesen. Da war Othmar ein größenwahnsinniger Klubbetreiber gewesen, der sich seinen Traum erfüllte, indem er für eine horrende Summe den Star-DJ Alpha X aus Manchester einfliegen ließ. Da hatte sein Chef, der alte Schandor, ordentlich mit den Ohren geschlackert. Für das Geld könne man dutzendweise Lokalgrößen engagieren. Und den Melkkühen, so nannte er die Touristen, würde es scheißegal sein, zu welchem Utz-Utz-Utz sie ihre Hufe stampften. Er gab trotzdem seinen Segen. Weil er wusste, was er an Othmar hatte.

David Schalko, "Bad Regina". € 24,70 / 400 Seiten. Kiepenheier & Witsch, Köln 2021. Der Roman erscheint am 14. 1.
Foto: Kiepenheuer & Witsch

Was für ein Abend! Der Krake zum Bersten voll. Von überall kamen sie her, um auf dem Soundteppich von Alpha X bis an die Decke zu fliegen. Da war Othmar eine Nacht lang so, wie er sich sah. Und so wie ihn sein Vater nie haben wollte.

Am Ende dieser glorreichen Nacht – Sommer 1998, das letzte gute Jahr in Othmars Leben und auch das letzte Jahr vor Chen – waren der große Alpha X und er auf dem Karlsstein gestanden und hatten ein Gerät geraucht, dass man unten im Ort hätte glauben können, sie hätten ebendort einen Fabrikschlot aufgestellt. In diesem Moment waren sie Freunde geworden. Stockdunkel war es gewesen. Wankend hatte er den dunkelhäutigen DJ immer wieder aus den Augen verloren. Ein solcher hatte ja kein Gespür für die Berge. Pechschwarze Luft. Vierhundert Meter Abgrund. Messerscharfer Rand. Und ein Wind, der selbst einem Hiesigen zu schaffen machte.

– Du bist nicht schuld, sagte Selma.

Othmar nickte.

– Wir hätten nicht so viel kiffen sollen.

– Ihr hättet nicht Ski fahren sollen.

– Es war seine Idee.

– Eben.

– Eine Scheißidee.

– Aber seine Idee.

Othmar hatte gelernt, mit dieser Lüge zu leben. Denn natürlich war es nicht die Idee von Alpha gewesen. Um den Star-DJ an einer voreiligen Abreise zu hindern, hatte Othmar den unsportlichen Briten noch zu einer Skitour überredet. Schließlich gab es in England keine Berge. Und wer Wasserski fahren könne ...

– Ski is Ski!

Und Schnee sei nichts anderes als gefrorenes Wasser. Und dann die fatale Idee. Der Monoski komme dem Wasserski am nächsten! Das mache quasi keinen Unterschied. Schon erstaunlich, wie konsequent das Marihuana die Gedanken an der Endfertigung hinderte. Denn der Monoski war selbst für routinierte Beine ein fahrendes Gefängnis. Wobei Alpha durchaus elegant die Pisten hinunterglitt. Der rote Overall. Der weiße Schnee. Der blaue Himmel. Die schwarze Haut. Und die wasserstoffblonden Haare, die fröhlich im Fahrtwind zappelten. Der Star-DJ hatte es nicht bereut, einen Tag dranzuhängen. Und bis zu dem Moment, als die holländische Melkkuh über ihre Verhältnisse den Hang hinunterraste, hatte auch keiner damit gerechnet, dass es nicht sein letzter Tag in Bad Regina sein würde.

– Es war Schicksal.

– Mit einem normalen Ski hätte er ausweichen können.

– Es ist die Schuld von dem Holländer gewesen.

Aber ausgebadet hatte es Othmar. Die Querschnittslähmung und die chronischen Schmerzen aufgrund der vielen Brüche hätten Alpha X nicht daran gehindert, seinen Beruf weiter auszuüben. Die irreparablen Gehirnschäden schon. Dar an änderten auch die monatlichen Schadenersatzüberweisungen des Holländers nichts, mit denen Othmar bis heute sein Auslangen fand. Kaum zu glauben, dass ein so berühmter DJ niemanden hatte, der ihn pflegen wollte.

Als Vollwaise in Manchester aufgewachsen, hatte er sich in den 90ern in die Oberliga des DJ-Hypes hochgearbeitet. Nicht schlecht für einen, der weder Fußball spielen noch singen konnte. Leider hatte er sein ganzes Geld für Drogen ausgegeben, und die langjährigen Weggefährten entpuppten sich als unzuverlässige Freunde. Um ehrlich zu sein, hatte keiner auf die verzweifelten Briefe von Othmar reagiert. Im gleichen Jahr ging das Licht im Kraken aus. Othmar stand ganz plötzlich vor dem Nichts. Da fand er in der Pflege von Alpha ein sinnstiftendes Dasein. Und die Überweisungen des Holländers reichten bei maßvollem Lebenswandel kurzfristig auch für zwei. Kurzfristig dauerte jetzt schon über zwanzig Jahre.

Müde gähnte er einen warmen Bierhauch in die kalte Luft von Bad Regina. Wie ein Häuptling, der über seinen Stamm wachte, saß er da. Von seinem Balkon aus hatte man den ganzen Ort im Auge. Die Straßen waren leer. Außer dem DHL-Lastwagen, der den sechsundvierzig Verbliebenen ihre wöchentlichen Rationen Lebensmittel brachte, war heute noch keine einzige Regung zu verbuchen. Weder in Bad Regina noch auf dem Planeten Alpha X.

Und dann blitzte eine weiße Bewegung in der Schneelandschaft auf. Man konnte den gleichfarbigen Toyota kaum erkennen. Aber niemand betrat das Reservoir unbemerkt von Häuptling Othmar. Unter dem Schwall des Wasserfalls vermochte er sein eigenes Flüstern kaum zu hören.

– Chen.

(David Schalko, ALBUM, 9.1.2021)